Als aber Gabriel Bagradian, von dem weinenden Awakian gefolgt, auf dem Altarplatz erschien, näherte sich ihm keine Seele. Im Gegenteil. Die Menge zog sich ziemlich weit zurück, so daß zwischen ihm und dem Altar eine freie Bahn entstand. Sogar die Klageweiber und Bettler erhoben sich und verschwanden unter dem Volk. Nur Ter Haigasun und Bedros Hekim blieben auf ihrem Platz. Gabriel aber fing nicht zu laufen an, sondern verlangsamte sogar seinen Schritt. Was er in fünf Tagen und Nächten sich in jeder Möglichkeit fieberhaft grausam ausgemalt hatte, nun war es da. Keine Kraft blieb mehr übrig, die Wirklichkeit auszukosten. Er durchmaß zögernd Schritt für Schritt den Abstand zwischen sich und seinem Sohne, als könne er auf diese Weise die letzte Erkenntnis noch um ein paar Sekunden hinausschieben. Dabei war es ihm, als trockne sein Körper ganz und gar aus. Mit den Augen begann es. Sie brannten von dieser Trockenheit, die der Lidschlag nicht linderte. Dann kam die Mundhöhle. Wie ein Stück dickes, verrunzeltes Leder lag die Zunge am rauhen Gaumen. Gabriel versuchte, Speichel hervorzupressen und zu schlucken. Doch er würgte nur an widerlichen Luftblasen, die in der feuerheißen Kehle platzten. Das Schrecklichste aber war, daß all seine Mühe, sich zu sammeln, ergebnislos verlief. Alles in ihm schweifte von dem Schmerz ab, der wie ein leeres Loch in der Mitte seiner selbst klaffte. Er aber wußte gar nicht, daß dieses Loch, dieses Nichts, diese Öde der wirkliche Schmerz war. Tückisch prüfte er sich: Wie kommt das? Warum leide ich nicht mehr? Warum brülle ich nicht auf? Warum spüre ich keine Tränen? Selbst der Harm gegen Stephan war nicht völlig gewichen. Und hier lag sein Kind, das er geliebt hatte. Doch Gabriel war nicht fähig, das Gesicht des Toten in sich festzuhalten. Seine ausgetrockneten Augen sahen nur einen großen weißen und einen kleinen gelblichen Fleck. Er wollte seine Gedanken auf ganz bestimmte Dinge richten, auf die Schuld, die ihn belastete. Er hatte den Jungen ja vernachlässigt und durch seine herabsetzenden Worte in die Flucht getrieben. Das war ihm in den letzten Tagen bewußt geworden. Seine Gedanken jedoch kamen nicht weit, denn die gleichgültigsten Bilder und Einzelheiten stiegen aus dem öden Loch auf und kamen den Gedanken in die Quere, obgleich sie meist gar nichts mit Stephan zu tun hatten. Gleichzeitig aber stieg aus demselben Loch, wie vom Teufel gesandt, ein Sinnenzwang auf, den er schon seit Wochen besiegt zu haben glaubte: Rauchen! Wäre noch eine Zigarette in seinem Besitz gewesen, wer weiß, ob er sie nicht zum Entsetzen des ganzen Volkes in den Mund gesteckt hätte. Er fingerte bewußtlos in seinen Taschen herum. In dieser Sekunde litt er um sein Kind, weil er es auch jetzt noch verließ. Warum war er Stephan so fern, daß er nicht einmal sein Gesicht sehen konnte? Einst in der Villa von Yoghonoluk – auf dem Tische lagen die unbeholfenen Kartenskizzen des Damlajik –, da hatte er sich an Stephans Bett gesetzt und seinen Schlaf belauscht. Nun mußte er doch noch einmal ganz eins werden mit seinem Kind, das alles, was er selbst war, mit sich nahm, für immer. Und Gabriel Bagradian kniete zu dem Toten hin, damit seine erblindeten Augen das harrende Gesichtchen zum letztenmal in sich aufnehmen.
Ter Haigasun, Altouni und die anderen sahen den Führer der Verteidigung im knappen Jagdanzug und mit Tropenhelm wie immer. Sie sahen ihn langsam, leicht schwankend, zur Bahre treten. Sie sahen dann, wie er verlassen dastand, den Mund schnappend öffnete, als bekomme er zu wenig Atem, und wie er mit den Händen immerfort unentschlossene Bewegungen machte. Sie sahen, daß er den Anblick seines Sohnes nicht zu ertragen schien, sondern den Kopf abgewandt hielt. Als er endlich neben der Leiche stumm in die Knie brach, da war im Herzen der tausend Schweigenden eine unendliche Zeit vergangen. Nun aber lag Gabriels Gesicht auf dem Gesicht Stephans. Man hätte meinen können, er sei eingeschlafen oder in dieser Stellung selbst gestorben. Der Tropenhelm war ihm vom Kopf gefallen. Zwischen seinen geschlossenen Lidern drang keine Träne hindurch. Doch alle Frauen weinten und auch viele unter den Männern. Stephans Tod schien all diese Menschen dem Fremden wieder näherzubringen. Nachdem neuerdings eine unendliche Zeit im Herzen der Menge vergangen war, faßten Ter Haigasun und Bedros Hekim den Knienden unter den Armen und zogen ihn empor. Und ohne ein Wort zu sprechen, führten sie Gabriel hinweg, der sich ihnen gehorsam überließ. Fern von der Stadtmulde erst, als der Dreizeltplatz schon in Sicht war, sprach Ter Haigasun, der an Gabriels rechter Seite ging, die knappen Worte:
»Gabriel Bagradian, mein Sohn, bedenke, daß er dir nur um ein paar gleichgültige Tage vorausgegangen ist!«
Bedros Hekim aber, links, holte seinen Gegensatz bitter und müde aus der Tiefe:
»Gabriel Bagradian, mein Kind, bedenke, daß diese nächsten Tage nicht gleichgültig, sondern teuflisch sein werden, und segne die Nacht!«
Bagradian sagte nichts, blieb aber stehn und streckte die Arme aus, den beiden Männern den weiteren Weg verwehrend. Sie verstanden, kehrten um und ließen ihn allein.
Juliettens Fieber war nicht wieder gesunken. Ihre Bewußtlosigkeit schien den tiefsten Grund erreicht zu haben. Die Unruhe des Körpers war gewichen, das Herumzucken, Würgen, Röcheln und Stammeln. Jetzt lag sie steif ausgestreckt, regungslos, nur dem Atem hingegeben, der in kurzen, flachen Stößen über ihre schorfbedeckten Lippen strich. War nun nach dem Gesetz der Seuche die Krise gekommen, die in wenigen Stunden über Tod und Leben entschied?
Iskuhi kümmerte sich nicht um Juliette. Mochte sie leben und sterben nach ihrem Willen. Iskuhi dachte auch nicht mehr an die schweren Drohungen Arams, ihres Bruders, der sich völlig von ihr loszusagen geschworen hatte, sollte sie nicht bis zur Mittagsstunde die Bagradians verlassen haben. Im Zelte stand Gabriel hoch aufgerichtet, so daß