»Bist du beschnitten oder unbeschnitten, Junge?«
Stephan verstand nicht. Jetzt erst schmolz sein zutrauliches Lächeln zu einem angstvollen Frageblick. Sein Schweigen erregte den Zorn der beiden Moslems. Harte eifernde Laute hagelten auf ihn nieder. Er wußte trotz ihrer Ausrufe und Gebärden immer weniger, was sie von ihm wollten. Da riß dem Schwarzbart die Geduld. Er packte den Knienden unter den Armen und zog ihn hoch. Der Graue aber entblößte ihn und untersuchte genau, was zu untersuchen war. Nun hatten sie die Bestätigung. Der verschlagene Armenierjunge, der sich stumm und taub stellte, war ein frecher Spion, den die Bergkämpfer ausgesandt hatten. Da war keine Zeit zu verlieren. Sie stießen den taumelnden Stephan vor sich her, den schmalen Talweg von Ain Jerab hinab bis zur großen Straße. Dort hielten sie ihn fest, bis der erste leere Ochsenkarren aus der Umgebung von Antakje des Weges nach Suedja kam. Der Fuhrmann mußte sofort im Namen des öffentlichen Dienstes sein Ziel ändern. Die Schergen hoben ihren Gefangenen in das Gefährt. Der Schwarze hockte sich an seine Seite, während der Graue nebenherschritt und in erregten Worten den Inhaber des Karrens über die Gefahr aufklärte, die er soeben abzuwehren im Begriff sei.
Nun aber, da Stephans Schicksal besiegelt war, nahm eine milde Himmelsmacht ihm die Gegenwart völlig von der Seele. Sein Kopf fiel in den Schoß des Schwarzbärtigen, seines tödlichen Feindes. Und sonderbar! Der Grimmige stieß sein Opfer nicht von sich. Er saß starr und rührte sich nicht, als wolle er dem Jungen nicht weh tun. Das glühende Gesicht in seinem Schoß, die offenen Augen, die ihn anschauten und doch nicht sahen, der fiebrische Atem, der die blutroten Lippen blähte, diese ganze kindlich hingegebene Nähe wühlte in dem winzigen Gemütsraum des Schwarzen eine wilde Bitterkeit auf. Die Welt war so und nicht anders. Man mußte in ihr zuschlagen!
Stephan aber wußte nichts mehr vom Musa Dagh. Er wußte nichts mehr von den Haubitzen, die er erobert, nichts mehr von den fünf schlaftrunkenen Menschen, die er durch fünf Meisterschüsse hingestreckt hatte. Haik war kaum ein Name mehr und Iskuhi nur ein Windhauch. Er aber trug wieder sein gewohntes Collegegewand und Schnürstiefel, die wunderbar fest an den unverwundeten und wohlgebadeten Füßen saßen. Er spazierte über herrliche Großstadtstraßen, die prachtvollen Kais der Seeufer entlang. Er wohnte mit Mama im Palace-Hotel von Montreux. Er saß an heilig weißgedeckten Tischen, er spielte auf Kieswegen, er saß in weißgetünchten Schulzimmern unter anderen Jungen, gehegt wie er. Bald war er kleiner, bald war er größer, doch immer in Obhut und Frieden. Mama aber trug einen roten Sonnenschirm, unter dem ihr Gesicht so tief erglühte, daß er sie manchmal kaum erkannte.
Dies alles war nicht ereignisreich, doch so ruhig schön, daß Stephan den Saptiehposten gar nicht bemerkte, der vor Wakef auftauchte. Einer der beiden Gendarmen setzte sich als Verstärkung zu dem Schwarzbart auf den Karren und hielt die Füße des Gefangenen fest. In Wakef aber schloß sich eine größere Abteilung von Saptiehs an. Je weiter man im Dörfertal vorwärtskam, um so größeres Aufsehen erregte die Eskorte. Eine beträchtliche Menge der neuen Haus- und Grundbesitzer folgte ihr, Männer, Weiber, Kinder.
Lange vor Mittag noch erreichte der Zug den Kirchplatz von Yoghonoluk. Eine tausendköpfige Menschenmenge hatte sich zusammengerottet, darunter auch die vielen alten und neuen Soldaten, die jetzt in den Dörfern garnisonierten. Schnell wurde der rothaarige Müdir aus der Villa Bagradian zur Stelle geholt. Die Saptiehs stießen Stephan vom Karren. Er mußte sich auf Befehl des Beamten völlig entkleiden, denn vielleicht verbarg er auf dem nackten Körper irgendeine Schrift. Der Bagradiansohn gehorchte lautlos und voll ruhiger Gelassenheit, was die Menge, als ein Zeichen tiefer Verstocktheit, heftig aufbrachte. Ehe er noch ganz nackt dastand, erhielt er von irgend jemand einen Hieb über den Hinterkopf. Doch auch in diesem Hieb lag Gnade. Er betäubte Stephan nicht ganz, sondern warf ihn noch tiefer in jene schöne Welt zurück, in der er sich nun gesittet bewegte.
Die Saptiehs hatten inzwischen aus dem Rucksack den Kodak und das Schreiben an Jackson hervorgeholt. Der Müdir hielt den photographischen Apparat hoch und schwenkte dieses harmlose Weihnachtsgeschenk, das den meisten fremd und unheimlich war:
»Das ist ein Werkzeug, an dem man alle Spione erkennt!«
Dann aber entzifferte und übersetzte er vor den Ohren des ganzen Volkes mit lautschallender Triumphstimme den hochverräterischen Brief an den amerikanischen Konsul. Ein aufrauschender Haßschrei folgte der Verlesung. Der Müdir trat ganz nahe an Stephan heran und griff ihm mit seiner prachtvoll manikürten Rechten unters Kinn, als wollte er ihn ermuntern:
»Nun aber sag uns, wie du heißt, Junge!«
Stephan lächelte und schwieg. Das Meer der Wirklichkeit umspülte ihn in unendlicher Ferne. Vor den Augen des Rothaarigen aber tauchte eine Knabenphotographie im Selamlik der Villa auf. Er wandte sich feierlich an die Menge:
»Wenn er es nicht sagen will, so werde ich's euch sagen. Es ist der Sohn des Bagradian ...«
Da traf Stephan der erste Messerstich in den Rücken. Er fühlte ihn nicht. Denn sie holten eben Papa vom Bahnhof ab, der aus Paris in der Schweiz eintraf. Mama trug noch immer den roten Sonnenschirm. Der Vater trat aus einem sehr hohen Tor, ganz allein. Er hatte einen schneeweißen Anzug an und keinen Hut auf dem Kopfe. Mama winkte. Als aber Gabriel Bagradian seinen kleinen Sohn erblickte, öffnete er die Arme voll unermeßlicher Liebe. Und da Stephan ja wirklich noch so klein war, hob er ihn an sein Herz, an sein strahlend nahes Gesicht, und hob ihn über seinen Kopf und höher und immer höher ...
Die erste, die den verstümmelten Leichnam nach Einbruch der Nacht entdeckte, war Nunik. Die Saptiehs hatten ihn, nackt wie er war, gleich nach der Massakrierung auf den Friedhof von Yoghonoluk geworfen. Nunik kam gerade zurecht, um ihn vor den wilden Hunden zu retten. Sie sandte eines der verwahrlosten Kinder sogleich in das Ruinenlager, um den Aufbruch der ganzen Schar zu verfügen. Etwas Gewaltiges war geschehen, und die Furcht durfte heute nicht regieren. Das Geschlecht Awetis Bagradians, des Stifters, versank für immer. Doch nun war auch die Stunde gekommen, dem Willen Ter Haigasuns zu entsprechen und den Bagradiansohn auf den Berg zu bringen. Der Lohn konnte nicht verweigert werden, und ein gesichertes Leben winkte.
In kleinen Gruppen traf die scheue Gesellschaft auf dem Friedhof ein. Die Totenweiber gingen sofort an die Arbeit. Sie reinigten den zerfetzten Körper des schönen Knaben von Blut und Schmutz. Die großmütige Nunik tat für die Familie Bagradian ein übriges. Sie holte aus ihrem unaussprechlichen Vorratssack ein langes weißes Hemd hervor, in das sie Stephans Körper hüllte. Während dieser letzten Dienste sang einer der prophetenhäuptigen Blinden vor sich hin:
»Das Blut des Lammes ist zu ihrem Haus geflossen.«
Nach vollendetem Werke aber banden sich Nunik, Wartuk, Manuschak und die andern Klageweiber ihre schweren Säcke auf den Rücken. Tiefgebeugt gingen sie unter der Last. In der zweiten Stunde des neuen Tages bewegte sich der lautlose und trotz des Halbmonds fast unsichtbare Zug gegen den Damlajik, um auf einem der heimlichen Wege, die der Waldbrand verschont hatte, die Stadtmulde zu erreichen. Nunik schritt an ihrem langen Stock als Führerin voran. Als sie im Walde und in Sicherheit waren, wurden zwei Fackeln entzündet und zu beiden Seiten der Bahre getragen, damit der Tote nicht ohne Licht und Ehre bleibe.
Drittes Kapitel
Der Schmerz
Gabriel Bagradian verbrachte die Nächte wieder auf seinem gewohnten Schlafplatz in der Nordstellung. Auf dringende Bitte Ter Haigasuns, den die sichtbare Lockerung der Mannszucht beunruhigte, hatte er bereits am ersten Abend nach Stephans Verschwinden den Oberbefehl wieder übernommen. Er gab damit ein klareres Zeugnis seiner Selbstdisziplin und Nervenkraft als in allen drei Schlachten. Denn in diesen Tagen zitterten ihm die Hände, er konnte keinen Bissen genießen und keinen Augenblick schlafen. Das Furchtbare war nicht nur die Ungewißheit über Stephans Los, sondern die völlige Aussichtslosigkeit, ihn zu finden, ihn zu retten. In der ersten Verzweiflung hatte er mit dem Gedanken einer Expedition gespielt. Sollte er nicht seine »Fliegende Garde« neu aufstellen und mit ihr einen Ausfall und Streifzug bis an die Aleppostraße wagen? Vielleicht würde er auf diesem