Von der neugierigen Familie allein gelassen, schlief Stephan sofort ein, während der besonnene Haik noch rasch den Marschplan für den nächsten Wegabschnitt überlegte. Er hoffte, daß auch Stephan am Abend wieder bei Kräften sein werde, so daß man bei Mondaufgang aufbrechen konnte. In der Nacht ließ sich die Strecke bis Hammam ohne Schwierigkeiten zurücklegen. War die Straße frei, um so besser, war sie nicht frei, so mußte man sich ein wenig abseits am Fuße des Hügelgeländes halten. Diese Hügel boten ohne Zweifel den besten Unterschlupf für den nächsten Tag, wenn man über Hammam hinaus den Punkt erreicht hatte, wo das große Bogenstück der Straße in der Sehne abgeschnitten werden sollte. Trotz allen Zwischenfällen war Haik mit dem bisher Geleisteten zufrieden. Die größten Gefahren lagen noch vor ihnen, aber die größten Strapazen waren überwunden. Leider täuschte sich Haik über Stephans Kräfte. Ein Wimmern und Stöhnen riß ihn aus dem tiefen Ermüdungsschlaf, dem er sich hier in der sicheren Kammer ohne Vorbehalt überlassen hatte. Stephan hockte, unter Schmerzen sich krümmend, auf seiner Matte. Fürchterliche Koliken zerschnitten seinen Leib, die Folgen des Abenteuers in den Sümpfen von El Amk. Auch zeigte es sich erst jetzt, daß seine Haut über und über mit Moskitostichen besät war. Nun konnte man an Ruhe nicht mehr denken. Die Hausleute benahmen sich weiter freundlich mitleidsvoll. Die Weiber hitzten runde Steine, die sie dem Jungen auf den Bauch legten, und bereiteten einen vielleicht heilsamen, doch um so widerlicheren Tee, den Stephan nicht bei sich behalten konnte. Erst gegen Abend ließ das Übel nach, das den Ärmsten unzählige Male gezwungen hatte, hinter das Haus zu wanken. Stephan war zum Schatten geworden, doch auch Haik, um den schwerverdienten Schlaf gekommen, sah grün und hinfällig aus.
Der Bauer hatte »Essad« und »Hüssein« erlaubt, ihr Nachtlager auf dem Hausdach aufzuschlagen. Seit Wochen schon in freier Luft lebend, konnten sie es in dem dumpfigen Loch voll Rauch, Ungeziefer und ranzigem Fettgeruch nicht aushalten. Nun saßen sie auf ihren Matten zwischen Pyramiden von Maiskolben, hochgeschichteten Schilfbündeln und Haufen von Süßholzwurzeln. Stephan blickte, fieberfröstelnd in seine Decke gewickelt, unablässig nach Westen. Zu dieser vorabendlichen Stunde bauten sich die Küstengebirge dort drüben höher auf, als sie waren, in vielen einander überwachsenden Schichten und in den reichsten Tinten, vom tiefen Saphirblau bis zum silberhauchigen Grau. Und so unglaubwürdig nahe waren die Berge. Hatten Haik und Stephan wirklich zwei volle Nächte und einen halben Tag durchwandern müssen, um diesen Katzensprung zurückzulegen? Dort der letzte Berg im Süden, der scharf abbrach, das mußte der Damlajik sein. Wie ein Wild auf der Flucht vor den Jägern war er mitten im gestreckten Lauf erstarrt. Sein langer Rücken senkte sich gegen Norden. Den Kopf duckte er zwischen den vorgelagerten Höhen. Seine Pranken aber schlugen wild nach hinten aus, wo die breite Oronteslücke das Meer ahnen ließ. Stephan sah nur den Damlajik. Er glaubte die Südbastion zu unterscheiden, die Kuppen, die Scharte der Steineichenschlucht, den Nordsattel, wo er vor unendlicher Zeit Abschied genommen hatte, ohne Abschied zu nehmen. Warum eigentlich? Er konnte sich gar nicht mehr erinnern. Der Damlajik schien heftig zu atmen, näher zu schweben, auf die Straße nach Aleppo, auf das Bauernhaus der turkmenischen Hügel, auf Stephan Bagradian zu. Haik wußte alles. In ihm erwachte die Gütigkeit des wahrhaft Starken, die angesichts eines Unterliegenden so gerne schwach wird:
»Hab keine Angst! Wir bleiben so lange, bis du wieder wirst laufen können.«
Der Fiebernde starrte noch immer verklärt küstenwärts:
»Ganz nahe ... ganz nahe sind sie ... ich meine die Berge ...«
Dann aber rappelte er sich auf, erregt, als sei es nun höchste Zeit. Haiks drohende Worte klangen ihm in den Ohren. Er wiederholte mit klappernden Zähnen:
»Es geht nicht um mich und dich, sondern um den Brief an Jackson ...«
Haik nickte bestätigend, doch ohne Vorwurf: »Besser wäre es schon gewesen, wenn dich Hagop angezeigt hätte ...«
Stephans verschrumpftes Gesichtchen begehrte nicht mehr auf, sondern versuchte friedfertig zu lächeln:
»Das macht nichts ... Du wirst durch mich keine Zeit verlieren ... Ich gehe zurück ... morgen ...«
Haik duckte sich plötzlich und winkte Stephan heftig, desgleichen zu tun. Von der nahen Straße, die den ganzen Tag nicht sonderlich belebt gewesen war, drang ein merkwürdiges Gescharre mit lallenden Jammerlauten herauf. Ein paar Saptiehs trieben einen kleinen Armeniertransport gegen Hammam. Transport war freilich eine allzu großartige Bezeichnung für diese Nachfechsung alter Leute und kleiner Kinder, die man in irgendwelchen gottverlassenen Dörfern aufgestöbert hatte. Die Saptiehs, die noch vor Mitternacht in Hammam sein wollten, fluchten und hieben auf den armseligen Spuk ein, so daß er unglaublich rasch hinter der nächsten Straßenbiegung verschwand. Dieser bedeutsame Zwischenfall schien Haiks Meinung endgültig befestigt zu haben:
»Ja! Es ist das allerbeste, wenn du zurückgehst. Aber wie? Durch die Sümpfe kannst du allein nicht kommen ...«
In Stephans Geist, der die Berge so traulich nahe fühlte, verwirrten sich alle Maße:
»Warum denn nicht? Der Weg ist nicht so weit ...«
Haik aber schüttelte entschieden den Kopf:
»Nein, nein, durch den Sumpf kannst du allein nicht kommen. Es ist besser, du gehst an Antakje vorüber. Dort, siehst du!? Das ist viel leichter ... Aber auch dort werden sie dich auf den Wegen erwischen. Du sprichst nicht türkisch, du kannst nicht beten wie sie und siehst überhaupt so aus, daß sie gleich rasend werden ...«
Stephan sank träumerisch auf seine Decke zurück:
»Ich werde ja nur in der Nacht laufen ... Vielleicht erwischen sie mich dann nicht ...«
»Ach, du«, brummte Haik mitleidsvoll verächtlich und überlegte, wie weit er Stephan begleiten könne, ohne mehr als einen Tag für seine große Aufgabe zu verlieren. Der Bagradiansohn aber, dem in fieberfröstelnder Behaglichkeit jetzt alles einfach und leicht vorkam, stammelte vor sich hin:
»Vielleicht wird mir Christus helfen ...«
Diese Hilfe freilich erschien unter den obwaltenden Umständen Haik noch als die einzig praktische. Außer der himmlischen hatte er sehr wenig andere Hoffnung für die glückliche Heimkehr Stephans auf den Musa Dagh. Und wirklich, eine höhere Macht schien jetzt zu Stephans Gunsten eingreifen zu wollen. Der turkmenische Hausvater erkletterte über die angelehnte Leiter sein Dach und begann die Schilfbündel und das Süßholz hinabzuwerfen. Haik sprang sogleich auf und half ihm diensteifrig bei dieser Arbeit. Als sie mit ihr fertig waren, schien der Bauer einen überraschenden Einfall zu haben und blinzelte Stephan an:
»Wollt ihr mit, ihr Burschen? Morgen früh fahre ich nach Antakje zum Markt. Weil ihr aus Antakje seid, will ich euch nach Hause bringen. Noch am Abend werden wir dort sein ...«
Und mit stolzem Selbstbewußtsein wies er auf den großen Stall hinter dem Hause:
»Ich fahre nicht mit dem Ochsenwagen, damit ihr es wißt, sondern mit dem Pferdchen und einem wirklichen Räderwagen.«
Haik schob den falschen Turban ein wenig zur Seite, um sich nachdenklich seinen Kopf zu kratzen, den Witwe Schuschik vor seinem Aufbruch kahlgeschoren hatte:
»Nimm den Vetter Hussein hier nach Antakje mit, Vater! Seine Leute wohnen dort. Die Meinigen sind ja in Hammam. Schade, daß du mit deinem Wagen nicht nach Hammam fährst! Da werd ich halt laufen müssen ...«
Der Turkmene versenkte sich aufmerksam in den Anblick des Pfiffigen:
»Aus Hammam sind deine Eltern. Allah kerim, bir! Gott ist gnädig, Junge! In Hammam kenne ich jeden Menschen. Was für ein Geschäft haben