»Habib en Neddschar, die Zitadelle! Antakje! Jetzt mußt du dich besser verstecken, Junge!«
Tatsächlich mündete der holprige Weg ein paar hundert Schritte weiter in die Bezirksstraße von Hammam, die Dschemal Pascha ebenfalls hatte neu schottern lassen. Auf dieser frischen Bahn herrschte unerwartet großes Leben. Der Turkmene schob die Schilfbündel auseinander, wodurch im Wagen eine tiefe Grube entstand:
»Da kriech hinein! Ich führe dich durch die Stadt und noch ein Stück über die Eiserne Brücke hinaus. Weiter aber geht's nicht. So, jetzt bleib still liegen!«
Stephan streckte sich aus. Der Bauer bedeckte ihn sehr geschickt, so daß er Luft bekam und unter der Last nicht allzusehr zu leiden hatte. In diesem Graben wichen alle Gedanken und Bilder von der Seele des Bagradiansohnes. Er lag da, nur mehr ein Stück gleichgültiger Schwere, ohne Furcht und ohne Mut. Der Wagen rollte schon auf der breiten Straße, glatt und angenehm. Stimmen lärmten und lachten von allen Seiten. Gleichgültig vernahm sie Stephan in seiner Tiefe. Dann holperte die Fahrt wieder, wie es schien, über eine gepflasterte Strecke. Plötzlich aber hielt der Wagen mit einem erschrockenen Ruck. Männer näherten sich und umstellten das Gefährt. Ohne Zweifel Saptiehs, Soldaten oder Polizisten. An Stephans Ohr drang das Gespräch dumpf und doch wie durch ein Schallrohr verstärkt:
»Wohin, Bauer?«
»In die Stadt, zum Wochenmarkt! Wohin denn anders?«
»Hast du deine Papiere in Ordnung? Zeig her! Was führst du da?«
»Marktware! Seht selbst nach. Schilf für die Zimmerleute und ein paar Oka Süßholz ...«
»Verbotenes hast du nichts? Kennst du das neue Gesetz? Getreide, Mais, Kartoffeln, Reis, Öl müssen an die Behörde abgeliefert werden.«
»Ich habe meinen Mais schon in Hammam abgeliefert.«
Ein paar Hände begannen die obersten Schichten flüchtig durcheinanderzuwerfen. Stephan fühlte es, ohne Furcht und ohne Mut. Dann zog das matte Pferdchen wieder an. Sie fuhren durch einen Tunnel von schreienden Menschenstimmen im trägsten Schritt. Immer schwächer sickerte das Licht zu Stephan hinab. Es war schon dunkel, als der zweite Anruf erfolgte. Der Turkmene aber hielt jetzt gar nicht an. Eine hohe Stimme keifte hinterdrein: »Was habt ihr da für neue Sitten? Nächstens fährst du am Tag. Verstanden? Wann werden diese Klötze endlich begreifen, daß wir Krieg haben.«
Die Hufe klapperten über die riesigen Steinquadern der Kreuzfahrerbrücke, die aus einer vergessenen Ursache »die Eiserne« genannt wird. Hinter der Brücke befreite der Turkmene den Fiebernden von seinen Lasten. Stephan durfte sich nun wieder, in seine Decke gewickelt, zwischen die Schilfbündel legen. Der Bauer war höchst zufrieden:
»Freu dich, Junge! Nun hast du das Schlimmste hinter dir. Allah meint es mit dir gut. Deshalb werde ich dich auch noch ein Stückchen weiter bis Mengulje bringen, wo ich bei einem Gevatter den Gaul einstellen und übernachten kann.«
Obgleich Stephans Lebensdocht tief herabgeschraubt war, erwies sich die Entspannung jetzt als doch so groß, daß er sogleich in einen schweren Schlaf verfiel. Der Turkmene trieb sein armes Roß noch einmal an, um mit seinem Schützling so schnell wie möglich im Dorf Mengulje zu sein, von wo freilich Stephan noch immer gute zehn Meilen zu laufen hatte, um die Abzweigung ins Dörfertal zu erreichen. Doch die simple Bauernseele hatte die Findigkeit eines armenischen Schicksals bei weitem unterschätzt. Stephan erwachte unter dem scharfen Licht von Karbidlampen und Blendlaternen, die über sein Gesicht hin und her fuhren. Uniformgesichter beugten sich zu ihm herab, Schnurrbarte, Lammfellmützen. Der Wagen war mitten in das Lager einer der Kompanien geraten, die der Wali dem Kaimakam von Antiochia aus der Stadt Killis zu Hilfe gesandt hatte. Die Zelte der Soldaten waren zu beiden Seiten der Straße aufgeschlagen. Nur die Offiziere hatten in Mengulje Quartier genommen. Der Turkmene stand ruhig neben dem Wagen. Vielleicht um seine Bestürzung zu verbergen, begann er das Pferdchen abzuklopfen. Einer der Onbaschis nahm ihn ins Gebet:
»Wohin willst du? Wer ist dieses Bürschlein da? Dein Junge?«
Der Bauer schüttelte versonnen den Kopf:
»Nein, nein! Das ist nicht mein Junge.«
Er suchte Zeit zu gewinnen, um auf einen guten Gedanken zu kommen. Der Onbaschi brüllte ihn an, er möge das Maul auftun. Glücklicherweise kannte der Alte von den verschiedenen Wochenmärkten her die Ortschaften dieser Gegend genau. Nun seufzte er, den Kopf hin und her wiegend:
»Nach Seris fahren wir, nach Seris, das am Fuße der Berge liegt ...«
Er sang diese Worte fast wie ein unschuldiges Lied. Der Onbaschi leuchtete Stephan scharf an. Die Stimme des Turkmenen aber wurde weinerlich:
»Ja, sieh es nur an, das Kind! Nach Hause muß ich es bringen, zu den Seinen, nach Seris ...«
Inzwischen hatte sich eine große Menge von Unteroffizieren und Soldaten um den Wagen versammelt. Der Alte aber schien plötzlich in eine große Erregung zu verfallen:
»O geht nicht zu nahe, geht nicht zu nahe, hütet euch ...«
Der Onbaschi erschrak tatsächlich vor dieser Warnung und starrte den Bauern an, der mit dem Finger auf Stephans Gesicht zeigte:
»Du siehst ja, daß dieses Kind fiebert und nicht bei Sinnen ist. Tretet weg, ihr da, damit die Krankheit euch nicht ergreift. Der Hekim hat den Jungen aus Antakje fortgeschickt ...« Und nun stieß der würdige Turkmene dem Onbaschi das furchtbare Wort geradezu ins Herz: »Fleckfieber!« Nicht einmal die Worte »Pest« und »Cholera« verbreiteten zu dieser Zeit in Syrien ein solches Grauen wie das Wort »Fleckfieber«. Die Soldaten prallten sofort zurück, und selbst der grimmige Onbaschi trat drei Schritte hinter sich. Der treffliche Mann aus Ain el beda hingegen zog nun seine Dokumente aus der Tasche und hielt sie dem Unteroffizier, die Überprüfung heischend, aufdringlich unter die Nase. Dieser verzichtete mit einem Fluch auf sein Amt. Binnen zehn Sekunden lag die Straße frei vor dem Wagen. Der Turkmene, durch den gelungenen Streich außer sich vor Stolz und Vergnügen, überließ das geschundene Rößlein sich selbst und lief kichernd neben Stephan einher:
»Da siehst du, Junge, wie gut Allah es mit dir meint. Hat er es nicht gut mit dir gemeint, daß er dich zu mir geschickt hat? Freu dich, weil du mich gefunden hast! Freu dich! Denn jetzt muß ich mit dir noch eine halbe Stunde weiterfahren, um irgendwo anders zu übernachten ...«
Der große Schreck aber hatte Stephan so gelähmt, daß er von diesen Worten kaum mehr etwas hörte. Als ihn dann später sein Retter aus dem Schlaf rüttelte, konnte er sich nicht rühren. Da nahm ihn der alte Turkmene wie ein kleines Kind in die Arme und stellte ihn auf die Straße, die das Orontesbett entlang nach Suedja führt:
»Hier ist kein Mensch mehr zu sehen, Junge! Wenn du gut läufst, kannst du noch früher als das Licht im Gebirge sein. Allah tut mehr für dich als für andre.«
Der Bauer schenkte Stephan noch ein Stück von seinem Käse, ein Fladenbrot und seine Wasserflasche, die er in Antakje frisch gefüllt hatte. Dann schien er ihm noch einen fromm ermunternden Zuspruch auf den Weg zu geben,