»Aber wer könnte sonst noch ein Interesse daran haben, einen KSK-Soldaten dafür zu bezahlen, dass er mit Schauergeschichten hausieren geht?«, fragte Ellen.
»Vielleicht hat es was mit dem Wahlkampf zu tun«, argwöhnte Lehr. »Jemand will vielleicht die Truppe in Misskredit bringen und seine Partei damit profilieren.«
»Spekulation!«
»Im Moment möchte ich die Sache so klein wie möglich halten. Der Mann hat langfristig wohl gar keine andere Perspektive, als sich zu stellen. Bleiben wir also gelassen.«
»Das sehe ich auch so«, meinte Fricke. »Ich möchte sowohl dich als auch Sie, Ellen, darum bitten, von Notizen über diese Unterredung abzusehen.«
Ellen nickte, während Lehr das Gespräch mit den Worten: »Selbstverständlich. Dann bis morgen in Berlin. Ich wünsche dir und Frau Dr. Strachwitz eine gute Anreise.«
Der Mann, der als Angehöriger des Kommandos Spezialkräfte mit KSK 656 gelistet war, lag zur gleichen Zeit in einem Schlafsack irgendwo im Spreewald. Vor einer Woche war sein Leben noch in geordneten Bahnen verlaufen. Nun lag er versteckt im Unterholz nahe der Hauptstadt des Landes, auf das er seinen Treueeid geleistet hatte. Seit heute also war er offiziell vor diesem Staat auf der Flucht, und es sah nicht danach aus, als ob er je wieder in sein altes Leben zurückkehren könnte. Nach seiner Flucht durch den Tiergarten hatte er sich in einer Einkaufspassage in ein Fahrradgeschäft verdrückt, um mögliche Verfolger abzuschütteln. Da er ein flexibles Verkehrsmittel brauchte, das ihn nicht ins Blickfeld neugieriger Kameras in Bahnhöfen und Bussen rückte, nahm er die Gelegenheit war und erstand ein straßentaugliches Geländerad. Der schattenwerfende Fahrradhelm und die breite Sonnenbrille boten für eine möglicherweise eingesetzte Gesichtserkennungssoftware zusätzliche Hindernisse. Als Radfahrer würde er zudem einheimisch oder wenigstens harmlos wirken und wäre auch von kameraüberwachten Tankstellen unabhängig. Mit dem Rad konnte er notfalls unbefestigte Wege nehmen, falls es galt, einem Auto zu entkommen. Außerdem verbarg das Radfahren sein biometrisches Bewegungsprofil.
In Afghanistan hatte die Feldnachrichtentruppe von Drohnen aus Zielpersonen anhand ihres Gehrhythmus überwacht. Durch den Schattenwurf konnte eine Software auf große Entfernung Menschen automatisch an der Art identifizieren, wie sie sich bewegten, und automatisch verfolgen. KSK 656 zog es vor, in jeder Hinsicht unsichtbar zu bleiben und keine Spuren zu hinterlassen, auch nicht in Hotels, die in Deutschland die Namen ihrer Übernachtungsgäste an die Sicherheitsbehörden melden mussten. Im Outdoor-Geschäft hatte sich KSK 656 zusätzlich zu dem Fahrrad noch einen Schlafsack besorgt und war nach seinem kurzen Ausflug in die zivile Welt nun wieder mobil und flexibel wie ein Feldsoldat.
Während der Baum gleich neben seinem Unterschlupf nur notdürftig den Regen abhielt, erinnerte sich KSK 656 an seinen letzten Arbeitstag, an dem es ebenfalls nieselte. Jörg, wie der Zweiunddreißigjährige eigentlich hieß, hatte vor dem Urlaub in der Kaserne der KSK in Calw trainiert. Die dortige Schießanlage war nach wie vor weltweit einzigartig. Auf drei Stockwerken konnte dort der Grundriss jeder der im Computer gespeicherten deutschen Botschaften automatisch nachgestellt werden. Aus über sechzig Ländern reisten Spezialeinheiten an, um unter realistischen oder künstlichen, erschwerten Bedingungen zu trainieren und mit scharfer Munition auf Puppen oder Projektionsflächen zu schießen. Anders als die GSG 9, die Antiterroreinheit der Bundespolizei, oder das SEK, das Spezialeinsatzkommando der deutschen Polizei, operierte das KSK in militärischem Gebiet, wo man auch den Rücken freihalten und Fluchtrouten organisieren musste. Beim KSK durften sich nur die Besten der Besten bewerben. Wer keinen besonderen Ehrgeiz bewies oder sich zuvor jemals irgendwo beschwert hatte, brauchte beim strengen Auswahlverfahren gar nicht erst anzutreten. Vor dem ersten Einsatz lag eine dreijährige Sonderausbildung, die auch ein intensives Studium von Politik, Strategie und Fremdsprachen beinhaltete. Seit die Bundeswehr vor fünfzehn Jahren diese spezielle Kommandoeinheit ins Leben gerufen hatte, war sie der ganze Stolz des Heeres. Geübt wurden nahezu unsichtbares Bewegen in Wüstenregionen, Klettern im Eis, amphibische Operationen und Schießen mit modernsten Waffen. Beim KSK gab es an Ausrüstung nur vom Feinsten. Die Pistole des KSK hatte keine Sicherung, um lebenswichtige Sekunden einzusparen. Die Männer des KSK wussten mit Waffen umzugehen.
Kurz nachdem Jörg am Freitag die Kaserne in Calw verlassen hatte und auf seinen Bus wartete, wäre er am liebsten wieder umgekehrt. Das KSK war sein Abenteuer, sein Leben und seine Familie. Das enge Verhältnis zu den Kameraden und die gegenseitige Treue gingen ihm über alles. Zu Hause in Wuppertal erwartete ihn nichts, was er hätte Leben nennen wollen. Mit dem Urlaub wusste er nichts anzufangen. Geld für Reisen hatte er nicht, noch weniger eine Freundin, mit der er die Welt hätte entdecken können. Er ertappte sich dabei, einen Besuch bei Renate in Erwägung zu ziehen. Sie war die Frau von Frank, seinem vormaligen Team Leader und engsten Kameraden. Renate war wie geschaffen für Frank gewesen. Wie er war sie sportversessen und duldete an ihrem Körper kein Gramm Fett zu viel. Als braun gebrannte Blondine mit vom Kajalstift betonten Augenbrauen verkörperte sie perfekt das Klischee der deutschen Soldatenbraut. Für Jörg hatte Renate allerdings einen Schönheitsfehler: Sie sah bereits vormittags fern. Aber sie war nun einmal sehr nett. Das letzte Mal hatte Jörg Renate gesehen, als sie im achten Monat war. Auf Franks Beerdigung. Beerdigt wurde, was von Frank noch übrig war. Wie alle Todesfälle beim KSK war auch dieser vertuscht worden. Beim KSK starb man nicht. Offiziell war ohnehin niemand beim KSK. Renate besuchen? Da würde ihn nun ein schreiendes Kind erwarten, außerdem eine gebrochene, allein erziehende Mutter und viele Erinnerungen an gemeinsame Stunden im Garten des schmucken Einfamilienhauses. Vielleicht war ein Besuch doch keine so gute Idee.
Der an der Kaserne eintreffende Linienbus war fast leer gewesen. Nachdem Jörg Platz genommen hatte, setzte sich überraschend ein Unbekannter auf die benachbarte Sitzbank.
»Na, Soldat, geht es in den Heimaturlaub?«
Der schneidige, etwa sechzigjährige Mann mit für sein Alter ausgesprochen schwarzem Haar hatte definitiv etwas Militärisches an sich. Die Narbe, die sich über seinen Handrücken bis zum Ellenbogen zog, wies ihn als einen Mann der Tat aus. Seine sommerliche Kleidung machte einen gepflegten Eindruck. Jörg antwortete mit einem freundlichen Lächeln, wandte dann aber seinen Blick ab. Zwar war es offensichtlich, dass ein an der Kaserne in Calw zugestiegener Fahrgast zum KSK gehörte, doch die Elitesoldaten beachteten streng die Regeln der Geheimhaltung. So, wie der Unbekannte wirkte, war er vermutlich selbst einmal bei der Truppe gewesen. Hätte ihm Jörg mehr Aufmerksamkeit gewidmet, würde ihm der Alte zweifellos gleich ein Gespräch über seine eigene Bundeswehrzeit aufdrücken. Um es gar nicht erst soweit kommen zu lassen, kramte Jörg die Ohrhörer seines Handys aus seinem Rucksack. Während er das Kabel einstöpselte und nach geeigneter Musik suchte, öffnete der Unbekannte einen Aktenhefter.
»Weberling, Jörg. Hauptfeldwebel. Eintausendneunhundertvierzig Euro netto. Aktuelle Verwendung: Information gesperrt, also Kommando Spezialkräfte oder BND … Voriger Jahrgangsbester. Bei den Kameraden beliebt. Afghanistan Badge der US-Delta Force. Auszeichnung für besondere Tapferkeit des Schweizer Bundesheeres … Wie kommt ein deutscher Soldat denn zu Schweizer Ehren?«
»Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.«
»Ach nein? Na gut … Ihre jüngsten Tests sind sehr vielversprechend. Sämtliche Vorgesetzten befürworten Ihre Beförderung. Schade, dass es dazu leider nicht kommen wird.«
Der Mann besaß nun Jörgs ganze Aufmerksamkeit.
»Eigentlich eine Schande. Ein Mann mit Ihren Talenten. Die ganze Ausbildung! Alles für die Katz!«
»Wovon reden Sie? Wer sind Sie?«
»Aus Ihrer Beförderung wird leider nichts. Und auch das KSK werden Sie wohl nie wieder von innen sehen. Na ja, es gibt ja beim Militär noch genügend andere spannende Aufgaben. Freizeitlotse zum Beispiel. Oder Kantinendienst.«
»Genug jetzt. Was reden Sie da für eine gequirlte Scheiße?«
In