Zwischen Himmel und Erde. Otto Ludwig. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Otto Ludwig
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 4064066113865
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was er schon damals nicht wußte, als er es tat, erraten können, was die Leute zu aller der zwecklosen Tätigkeit verleitet. Auch der junge Herr, der eben zum sechsten Male seit einer Stunde seine Uhr aufziehen will, ist so wenig mit dem Bewußtsein bei diesem Geschäft, daß er es in der nächsten Viertelstunde zum siebenten Male versuchen wird. Dann setzt er seine wohlgenährte, kurze Gestalt auf den Stuhl am Fenster und ist ungewiß, ob er hinaus auf die Straße sieht, oder ob er bei den Gedanken ist, die in derselben zwecklosen Unruhe, die sein Äußeres zeigt, wie Wolkenschatten an seinem Bewußtsein vorbeiflattern. Er sitzt in schwarzer Sonntagskleidung einer jungen Frau gegenüber. Er hätte Zeit genug, zu sehen, wie schön sie ist, wie anmutig ihr das zerstreute Wesen ansteht, — und es kleidet sie weit besser, als ihn. Zuweilen scheint er es auch zu sehen, aber dann ist es, als wäre es ihm keine Freude. Dann werden die Gedankenschatten auf seinem Gesichte tiefer und flattern nicht mehr so schnell darüber hin. Er betrachtet die schönen Züge der jungen Frau genauer, ja es ist, als ob er sie belauere, als ob er sich sorgenvoll frage, ob sie den Ausdruck von Widerwillen, der über ihnen hängt, behalten werde, bis — und klingt dann zufällig ein stärkerer Tritt von der Straße herein an sein Ohr, dann schrickt er auf, aber er vermeidet ihre schönen, offenen Augen, die sie, vom Klange des Tritts geweckt, nach ihm hin aufschlagen kann.

      Im Gärtchen kann der alte Valentin einem ebenso alten Herrn im blauen Rock nichts recht machen. Er ist zu aufgeregt und horcht und sieht viel durch den Zaun nach der Straße, darüber tut er bald zu wenig, bald zu viel; und der alte Herr schilt manchmal, scheint es auch nur, um seine Bewegung zu verbergen. Die Hände zittern merklich, mit denen er untersucht, ob die Buchsbaumeinfassung der kleinen Beete auch so eigensinnig gleichmäßig geschoren ist, wie er sie geschoren haben würde, besäße er noch das scharfe Auge von ehedem. Der alte Valentin müßte eine Träne von den hohlen Backen wischen, wie es so oft geschieht, über die Hilflosigkeit des alten Herrn und tausend Vergleiche zwischen sonst und jetzt, die ihm der Anblick derselben herbeiruft; aber seine Augen und seine Gedanken sind auf der Straße vor dem Zaun.

      Hinten am Ende des Ganges neben der Tür des Schuppens sitzt auf einem Haufen Schieferplatten ein ungemütlicher Gesell in Hemdärmeln. Der Ausdruck seines Gesichts wechselt ohne sichtbaren äußeren Anlaß zwischen widerwärtiger Zutulichkeit und tückischem Trotz. Er kramt, scheint es, unter seinen Gesichtern, wie ein Mädchen in ihrem Schmuck. Er hält beide bereit, um das rechte gleich bei der Hand zu haben. Er weiß noch nicht, welches er brauchen wird.

      Vorn durch den Spalt der wenig geöffneten Haustüre lauscht das Dienstmädchen. Aber keine ihrer Bekannten geht vorbei. Bald wird sie auf einen Vorwand sinnen, die erste beste vorüberwandelnde Gestalt anzuhalten, nur um wie gelegentlich anzubringen, das Haus erwarte heute seinen jüngeren Sohn aus der Fremde zurück. Einstweilen sagt sie es dem alten Hunde, der, bemüht, die verschiedenen Gruppen durch sein Ab- und Zugehen in Verbindung zu erhalten, eben bei ihr angekommen ist. Und sogleich wendet er sich nach dem Hofe zurück, wie um weiter zu sagen, was er vernommen. Der alte Hund ist von der Unruhe der Menschen angesteckt. Ist doch jetzt die Stunde, die er an andern Tagen vor seiner Hütte schlafend verbringt.

      Die alte Gewohnheit scheint ihn zu mahnen, als er an seiner Hütte vorbeilaufen will. Er legt sich daneben, aber er schließt die Augen nicht; er scheint in tiefe Gedanken versunken. Denkt er sich die weite Erde mit ihren Bergen und Tälern und Flüssen, mit ihren Städten und Dörfern? Und von Ort zu Orte Straßen und auf jeder Straße Wanderer, fortziehende und heimkehrende?

      Wer ein scharfes Auge hätte, die Herzensfäden alle zu sehen, die sich spinnen die Straßen entlang über Hügel und Tal, dunkle und helle, je nachdem Hoffnung oder Entsagung an der Spule saß, ein traumhaftes Gewebe! Manche reißen, helle dunkeln, dunkle werden hell; manche bleiben ausgespannt, so lang die Herzen leben, aus denen sie gesponnen sind; manche ziehen mit unentrinnbarer Gewalt zurück. Dann eilt des Wanderers Seele vor ihm her und pocht schon an des Vaterhauses Tür und liegt an warmen Herzen, an Wangen von Freudentränen feucht, in Armen, die ihn drücken und umfangen und ihn nicht lassen wollen, während sein Fuß noch weit davon auf fremdem Boden schreitet. Und steht er auf der Flur des Vaterhauses, wie anders dann, wie anders oft ist sein Empfang, als er geträumt! Wie anders sind die Menschen geworden! In einer Minute sagt er zweimal: sie sind’s, und zweimal: sie sind’s nicht. Dann sucht er die altbekannten lieben Stellen, die Häuser, den Fluß, die Berge, die das Heimatstal umgürten; die müssen doch die alten geblieben sein. Aber auch sie sind anders geworden. Oft sind es die Dinge, die Menschen, oft nur das Auge, das sie wiedersieht. Die Zeit malt anders, als die Erinnerung. Die Erinnerung glättet die alten Falten, die Zeit malt neue dazu. Und die, mit denen er in der Erinnerung immer zusammen war, in der Wirklichkeit muß er sich erst wieder an sie gewöhnen.

      Ob Apollonius das dachte, als er immer etwas vergebens erwartete und nicht wußte, daß es der Bruder war, der ihm entgegenkommen sollte? Ob der Bruder fühlte, Apollonius müsse nach ihm aussehen, als er so schnell von seinem Stuhle aufstand? Er hatte schon die Türklinke in der Hand. Er ließ sie fahren. Fiel ihm ein, er könne ihn verfehlen, und blieb, weil er Frau und Bruder die Peinlichkeit des Augenblicks ersparen wollte, in dem sie einander allein gegenüberstehen müßten? Sie mit dem Widerwillen und er mit dem Bewußtsein jenes Widerwillens. Jetzt stieg die alte Gestalt des Geschiedenen vor dem Bruder auf und es war, als befreite sie ihn von schweren Sorgen. Es war die Wendung, mit der er sich sonst von dem Gegenwärtigen abwandte, und dabei aussah, als sagte er zu sich: „der Träumer“! und eine rasche Bewegung machte, wie um recht zu fühlen, welch’ ein andrer er sei, wie besser er sich auf das Leben verstehe und die Art, „die lange Haare hat und Schürzen trägt“. Er musterte mit einem beruhigten Blick in den Spiegel seine gedrungene Gestalt, sein volles, rotes Gesicht, das tiefer in den Schultern stak, als er meinte, wenigstens nicht tiefer, als er für schön hielt; er steckte die Hände in die Beinkleidertaschen und klapperte mit dem Gelde darin. Er besann sich, schon dem Gesellen am Schuppen gesagt zu haben: „Es bleibt beim alten in der Arbeit. Du nimmst von niemand Befehle als von mir. Ich bin Herr hier“. Und der hatte so eigen Zweideutig gelacht, als sagte er ein lautes Ja zu dem Redenden, und zu sich: „ich lass’ dich so reden, weil ich es bin“. Fritz Nettenmair dachte: „lange wird er nicht bleiben, dafür will ich schon tun“. Und über der Bewegung, die wiederum sagte: „ich bin ein Kerl, der das Leben versteht,“ fiel ihm der Ball ein, an dem er das heute abend noch viel genugtuender empfinden wird, weil er es in allen Augen lesen kann, was er ist, und kein andrer so außer ihm.

      Seine junge Frau scheint ähnliches zu denken. Auch sie sieht in den Spiegel; ihre Blicke begegnen sich darin. Die Ehe soll die Gatten sich ähnlich machen. Hier traf die Bemerkung. Das Zusammenleben hatte hier zwei Gesichter sich ähnlich gemacht, die unter andern Umständen sich vielleicht ebenso unähnlich sehen würden. Und es hatte eigentlich nicht beide einander ähnlich gemacht, sondern nur eins davon dem andern. Die übereinstimmenden Züge, das konnte ein scharfes Auge sehen, waren nur ihm eigen; er hatte nur gegeben, aber nicht empfangen. Und doch wäre es umgekehrt besser gewesen für Beide, wenn er es auch nicht eingestehen würde und sie es nicht fühlte, wenigstens in diesem Augenblicke nicht. Vielleicht auch morgen und übermorgen noch nicht. Wieviel Zeit mag nötig sein, wieviel Schmerzen wird sie zu Hilfe nehmen müssen, von einem ursprünglich so schönen Menschenbilde abzuwaschen, womit die Gewohnheit von Jahren es beschmutzt!

      Die Tür flog auf, das hochgerötete Antlitz des Dienstmädchens erschien in ihr. „Er kommt!“ Wer in der Straße zufällig am Fenster steht, schaut mit Wohlgefallen auf die frische, schlanke, männliche Gestalt herab, die daher kommt, den Tornister auf dem Rücken, den Stock unter dem Arm. Denn er hat keine Hand frei. An der rechten führt er ein Mädchen, zwei kleinere Knaben halten sich zugleich an seiner linken fest; ein Umstand, der das Fortkommen nicht erleichtert. Die Nachbarn, die wußten, wer erwartet wurde, füllen Fenster und Türen. Er hat nun nicht bloß den unermüdlich auf ihn einredenden Kindern, er hat auch andern zu antworten. Den Alten muß er auf Grüße und Scherzreden erwidern, Schulkameraden zuwinken, vor errötenden Mädchengesichtern sich verneigen. Den Hut kann er nicht abziehen; die Kinder geben seine Hände nicht frei. Aber die Grüßenden verlangen es auch nicht; sie sehen, wie unmöglich es ihm ist. Und wo er vorübergegangen, da sagt ein Winken hinter ihm her: „er ist noch der alte, hübsche, bescheidene Junge,“ und ein gehobener Finger setzt hinzu: „aber er ist kein Junge mehr; er ist ein Mann geworden, und was für einer!“ Ist das Fenster geschlossen,