So blättern wir denn die einunddreißig Jahre zurück und finden einen jungen Mann statt des alten, den wir verlassen. Er ist hochgewachsen wie dieser, aber nicht so stark. Er trägt die braunen Haare, wie der Alte, am Hinterkopfe kurz geschoren, über der weißen hohen Stirn in eine sogenannte Schraube künstlich gedreht. Auf seinem Gesicht erscheint noch nicht die Strenge des Alten, dem gutmütigen Ausdrucke ist die Narbe erlittenen Seelenschmerzes noch nicht eingeprägt. Keineswegs aber hat er die leichtsinnige Unbekümmertheit, die sonst seinem Alter eigen, und auch nicht das bequeme, nachlässige Wesen, das dem fahrenden Handwerksburschen so leicht zur Gewohnheit wird. Noch führt ihn die hohe Straße durch dichten Wald, aber die Klänge der Sankt Georgenglocken aus der tief unten liegenden Stadt steigen herauf zur waldigen Höhe und dringen durch Baum und Busch unhemmbar wie eine Mutter, die dem kommenden Liebling entgegenflieht. Heimat! Was liegt in diesen zwei kleinen Silben! Was alles steht auf im Menschenherzen, wenn die Stimme der Heimat, der Glockenton, dem aus der Fremde Kehrenden Willkommen ruft, der Ton, der das Kind in die Kirche, den Knaben zur Konfirmation und zum ersten Genusse des heiligen Mahles rief, der jede Viertelstunde zu ihm sprach! Im Gedanken Heimat umarmen sich all unsre guten Engel.
Unserm jungen Wanderer drangen Tränen aus den ernsten und doch so freundlichen Augen. Schämte er sich nicht vor sich selbst, er hätte laut geweint. Er kam sich vor, als hätte er seinen Aufenthalt in der Fremde nur geträumt und könne sich, nun er erwacht, auf den Traum kaum mehr besinnen, als hätte er nur geträumt, er sei ein Mann geworden in der Fremde; als sei es ihm immer schon im Traum gekommen, er träume nur in der Fremde, um, wenn er daheim erwacht sei, davon erzählen zu können. Es könnte auffallen, wie er bei alledem in diesem Augenblicke seines ganzen Innern den Spinnenfaden nicht übersah, den die grüßende Luft von der Heimat her gegen seinen Rockkragen wehte, und daß er die Tränen vorsichtig abtrocknete, damit sie nicht auf das Halstuch fallen möchten, und mit der eigensinnigsten Ausdauer erst die letzten, kleinsten Reste des Silberfadens entfernte, ehe er sich mit ganzer Seele seinem Heimatsgefühle überließ. Aber auch sein Hängen an der Heimat war ja zum Teile nur ein Ausfluß jenes eigensinnigen Sauberkeitsbedürfnisses, das alles Fremde, das ihm anfliegen wollte, als Verunreinigung ansah; und wiederum entsprang jenes Bedürfnis aus der Gemütswärme, mit der er alles umfaßte, was in näherem Bezuge zu seiner Persönlichkeit stand. Das Kleid auf seinem Leibe war ihm ein Stück Heimat, von dem er alles Fremde abhalten mußte.
Jetzt machte die Straße eine Wendung; der Bergrücken, der vorhin die Aussicht verengt hatte, blieb zur Seite liegen, und über jungem Wuchs stieg eine Turmspitze auf. Es war die Spitze des Sankt Georgenturms. Der junge Wanderer hielt den Schritt an. So natürlich es war, daß das höchste Gebäude der Stadt ihm zuerst und vor den übrigen sichtbar werden mußte, seine Sinnigkeit vergaß es über der innigen Bedeutung, die sie in den Umstand legte. Das Schieferdach der Kirche und des Turms bedurfte einer Reparatur. Diese war seinem Vater übertragen worden und sie war der Grund, wenigstens der Vorwand, warum der Vater ihn früher aus der Fremde zurückrief, als er bei des Sohnes Abreise gewillt gewesen. Vielleicht morgen schon begann er seinen Teil Arbeit. Dort, senkrecht über dem weiten Bogen, durch den er die Glocken sich bewegen sah, war die Aussteigetüre angebracht. Dort sollten die beiden Balken sich herausschieben, um die Leiter zu tragen, auf der er emporklimmte, bis zur Helmstange, das Tau seines Fahrzeugs daran anzuknüpfen für die luftige Fahrt um das Dach. Und wie es seine Natur war, sich mit festen Herzensfäden an die Gegenstände anzuspinnen, mit denen er in Arbeitsberührung kommen sollte, so sah er in dem Auftauchen der Turmspitze einen Gruß und griff unwillkürlich in die Luft nach dem Grüßenden hin, als gält’ es, eine freundlich dargebotene Hand zu drücken. Dann beschleunigte der Gedanke an seine Arbeit seinen Schritt, bis ein Aushau im Walde und die Ankunft auf der höchsten Kante des Berges ihm die ganze Heimatsstadt vor seinen Füßen liegend zeigte.
Wieder blieb er stehen. Dort stand das Vaterhaus, dahinter der Schieferschuppen; in derselben Vorstadt, nicht weit davon, das Haus, wo sie — gewohnt hatte damals, als er in die Fremde ging, jetzt wohnte sie in seinem Vaterhaus, war seines Vaters Tochter, seines Bruders Weib und er sollte von heute an in demselben Hause leben und sie täglich sehen als seine Schwägerin. Sein Herz schlug stärker bei dem Gedanken an sie. Aber keine von den Hoffnungen, die sich ihm sonst an ihr Andenken geknüpft, ließ es schwellen. Seine Neigung war die eines Bruders zur Schwester geworden und was ihn jetzt bewegte, sah mehr einer Sorge gleich. Er wußte, sie dachte mit Widerwillen an ihn. Sie war die einzige im ganzen Vaterhause, die sein Kommen ungern sah. Wie war das alles geworden? War nicht eine Zeit gewesen, wo sie ihm gut zu sein schien? Wo sie ihm so gern zu begegnen schien, als später beflissen, ihm auszuweichen? Da unten vor der Stadt in Gärten liegt das Schützenhaus. Wie sind die Bäume um das Haus größer geworden, seit er von dieser Höhe herab auch ihm den letzten Gruß zugewinkt hatte! Dort unter jener Akazie hatte er kurz vorher gestanden — es war an einem schönen Frühlingsabend gewesen, dem schönsten, meinte er, den er erlebt — am Pfingstschießen. Drin tanzte das übrige junge Volk; er ging selig um das Haus herum, in dem er sie tanzend wußte. Er fühlte sich jetzt noch im Umgang mit Mädchen und Frauen befangen, und wußte nicht mit ihnen zu reden; das war er damals noch mehr gewesen als jetzt. Wie gern hätte er ihr gesagt — wenn er allein war, wieviel hatte er ihr zu sagen und wie gut wußte er es zu sagen, und führte es ein Zufall daß er sie allein traf — und wunderbar, wie geschäftig der Zufall sich zeigte, ein solch Zusammentreffen zu vermitteln — da trieb ihm der Gedanke, jetzt sei der Augenblick da, alles Blut nach dem Herzen, die Worte von der Zunge in den Versteck der tiefsten Seele zurück. So war es gewesen, wie sie, die Wangen vom Tanze glühend, allein herausgetreten war aus dem Hause. Es schien ihr nur um Kühlung zu tun; sie wehte sich mit dem weißen Tuche zu, aber ihre Wangen wurden nur röter. Er fühlte, sie hatte ihn gesehen, sie erwartete, er sollte näher treten und daß sie wußte, er verstand sie, das färbte ihr die Wangen röter. Das trieb, da er zögerte, sie wieder hinein in den Saal. Vielleicht auch, daß sie einen Dritten nahen hörte. Sein Bruder kam aus einer andern Tür des Saales. Er hatte die beiden noch schweigend einander gegenüberstehen, vielleicht auch des Mädchens Röterwerden gesehen. „Du suchst die Beate?“ fragte unser Held, um seine Verlegenheit zu verbergen. „Nein,“ entgegnete der Bruder. „Sie ist nicht zum Tanze und das ist gut. Es kann doch nichts werden; ich muß mir eine andere anschaffen und bis ich eine finde, ist böhmisch Bier mein Schatz.“
Es war etwas Wildes in des Bruders Rede. Unser Held sah ihn verwundert und zugleich bekümmert an. „Warum kann nichts werden?“ fragte er. „Und wie bist du nur?“
„Ja, du meinst, ich soll sein wie du, fromm und geduldig, wenn nur kein Federchen etwa an deinem Rocke sitzt. Ich bin ein andrer Kerl, und wird mir ein Strich durch meine Rechnung gemacht, muß ich mich austoben. Warum nichts werden kann? Weil der Alte im blauen Rock es nicht will.“
„Der Vater rief dich gestern in das Gärtchen —“
„Ja, und zog seine weißen Augenbrauen, die wie mit dem Lineal gemacht sind, anderthalb Zoll in die Höh. Ich hatte mir’s wohl gedacht. ‚Du gehst mit der Beate vom Einnehmer. Das hat aufgehört von heut an.‘“
„Ist’s möglich? Und warum?“
„Ja, hast du je gehört, daß der im blauen Rock ein Warum vorgebracht hätte? Und hast du ihn je gefragt: warum denn aber, Vater?