Matthew war nicht nach Zuhören zumute. Er versuchte wieder Luft in seine Lungen zu zwängen, damit er nach Hilfe schreien konnte, aber der Arm um seinen Hals drückte fester zu, und er spürte, wie sein Puls in seinen Schläfen pochte. Sein Blick verschwamm.
»Ich habe was für Euch«, sagte die Stimme. Irgendetwas wurde Matthew in die rechte Hand gedrückt, die zuckend zupackte und dann wieder losließ, sodass das Ding zu Boden fiel. »Ich habe Euch eine Seite markiert. Achtet darauf!«
Matthew war kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren. Sein Kopf fühlte sich an, als würde er jeden Moment explodieren.
Die gedämpfte Stimme flüsterte: »Eben Ausley war …«
Eine Laterne kam um die Ecke der King Street und plötzlich war der Druck des Arms verschwunden. Als Matthew auf dem Boden zusammensank und rote Funken und blaue Kreise sah, hörte er, wie jemand in Richtung Süden davonlief. Dann verlor sich das Geräusch abrupt und ein klarer Gedanke schob sich durch die Watte in seinem Hirn: Die Person war zwischen zwei Gebäude geschlüpft.
Der Trick des Maskenschnitzers, wurde ihm bewusst.
Er musste ein Geräusch von sich gegeben haben – vielleicht ein tierartiges Grunzen oder ein schwaches Pfeifen, als er einatmete –, denn auf einmal wurde das Laternenlicht auf ihn gerichtet. Er blinzelte benommen und rieb sich die Kehle.
»Ei, gucke da!«, sagte der Mann hinter der Laterne. Es war die widerwärtige Stimme eines kleinen Tyrannen auf Raubzug. »Wen haben wir denn hier, doch nicht den Gerichtsdiener?«
Ein schwarzer Schlagstock senkte sich und kam auf Matthews linker Schulter zu ruhen. Matthew schnappte nach Luft, konnte aber noch immer nicht sprechen.
Dippen Nack beugte sich zu ihm hinunter und schnüffelte. »Ihr seid betrunken, ja? Und das so kurz vor der Sperrstunde. Was soll ich davon halten?«
»Helft mir«, brachte Matthew heraus. Seine Augen tränten und er versuchte erfolglos aufzustehen. »Helft mir hoch.«
»Ich werde Euch schon hochhelfen. Ich helfe Euch direkt ins Gefängnis. Ich hatte Euch immer für einen Paragrafenreiter gehalten, Corbett. Was wird denn nur der alte Powers dazu sagen, hä?«
Der Schlagstock klopfte Matthew auf die Schulter, was seinen Willen stärkte, es beim nächsten Versuch auf die Beine zu schaffen. Als er sich auf der Erde abstützen wollte, spürte er den Gegenstand unter der Hand, der ihm aufgedrängt worden war. Er sah, dass es ein kleines, in braunes Papier geschlagenes rechteckiges Etwas war. Mit weißem Wachs versiegelt, wie ihm auffiel. Er hielt es in Nacks Lichtschein und sah, dass auf dem Papier in großen Buchstaben sein Name stand: Corbett.
»Los. Ich würde sagen, dass Ihr nicht nur ganz und gar besoffen seid, sondern auch gegen Cornholes Erlass verstoßen habt.« Wieder senkte sich der Schlagstock auf Matthews Schulter, diesmal stärker. Schmerzen durchfuhren Matthews Arm. »Fünf Sekunden noch und dann ziehe ich Euch an den Haaren hoch.«
Matthew stand auf. Die Welt drehte sich ein paarmal um ihn, aber er senkte den Kopf und schnappte nach Luft, bis der Schwindelanfall vorüberging. Er hielt das braune Päckchen in der rechten Hand und kramte mit der linken nach seiner Uhr.
»Falls es zu schwierig ist, das zu kapieren: Ich nehme Euch fest. Los jetzt, Marsch«, befahl Nack.
Matthew klappte den Deckel seiner Taschenuhr auf und hielt sie ins Licht. »Es ist acht Uhr zwanzig.«
»Ich kann mir vielleicht keine so hübsche Uhr leisten – und Gott weiß, wie Ihr daran gekommen seid –, aber um meine Pflicht zu kennen, brauch ich auch keine. Ihr seid betrunken, und bis zum Gefängnis ist es noch eine ganze Strecke. Um die zehn bis zwanzig Minuten, wenn ich die Straßen richtig im Kopf habe.«
»Ich bin nicht betrunken. Ich bin überfallen worden.«
»Ach ja? Und wer hat Euch überfallen?« Nack gluckste. »Der verdammte Maskenschnitzer?«
»Ich weiß es nicht, vielleicht war er es.«
Nack stieß Matthew die Laterne vors Gesicht. »Warum seid Ihr dann nicht tot?«
Das konnte Matthew nicht beantworten.
»Los jetzt«, sagte Nack und drückte ihm die Spitze seines Schlagstocks an den Hals.
Matthew versteifte die Beine, damit Nack ihn nicht schubsen konnte. »Ich gehe nicht ins Gefängnis«, sagte er. »Ich gehe nach Hause, weil ich nicht gegen den Sperrstundenerlass verstoßen habe.« Ob dieses Zuhause nun ein fensterloses holländisches Milchhaus war oder nicht – er hatte vor, am Morgen als freier Mann aufzuwachen.
»Ihr widersetzt Euch der Verhaftung, wollt Ihr damit sagen?«
»Ich habe Euch gesagt, was ich tun werde, und empfehle Euch, zu Eurer Arbeit zurückzukehren.«
»Ach ja?«
»Vergessen wir das hier doch einfach, ja? Danke auch für Eure Hilfe.«
Nack grinste schief. »Ich glaube, Ihr müsst von Eurem hohen Ross geholt werden.« Er hob den Schlagstock, und Matthew erkannte, dass der Mann ihm auf den Kopf schlagen wollte.
Aber falls Nack gedacht hatte, dass Matthew betrunken und nicht imstande war, sich zu verteidigen, wurde der brutale Wachtmeister schnell und unangenehm überrascht. Denn Matthew schob sich das in Papier eingewickelte Päckchen in die linke Hand und legte mit seiner rechten Faust an Nacks Mund vehementen Widerspruch ein. Es klang, als würde man einen dicken Kabeljau mit einem Ruder schlagen. Die Augen weit aufgerissen stolperte Nack zurück und der Schlagstock fuhr durch leere Luft auf die Stelle nieder, an der Matthew kurz zuvor noch gestanden hatte.
Vielleicht drei Sekunden lang stand Nack in betäubter Bewegungslosigkeit da. Dann verzog sich das Gesicht des Wachtmeisters zu einer Grimasse wie der eines wutentbrannten Tiers – einer verärgerten Bisamratte, zum Beispiel –, und er sprang mit erhobenem Schlagstock wieder nach vorn. Matthew wich nicht aus. Er erinnerte sich sonnenklar an etwas, das Hudson Greathouse ihm während der ersten Fechtstunde gesagt hatte: Ihr müsst Eurem Gegner die Beherrschung des Kampfes abgewinnen. Matthew nahm an, dass das sowohl fürs Fechten als auch für einen Faustkampf galt. Er trat Nack in den Weg, um den Schlag mit seinem linken Unterarm abzublocken, und schlug Nack mit der rechten Hand mitten auf die Nase. Ein feucht klingendes Papp war das Resultat. Der Wachtmeister taumelte zurück und rutschte fast auf seinen Absätzen aus. Er hustete und schnaubte. Blut sprühte aus beiden Nasenlöchern. Schmerzenstränen fluteten ihm in die Augen, als er sich die Hand über die verwundete Nase hielt.
Matthew zeigte Nack die Faust, ausholbereit für einen weiteren Gruß. »Möchtet Ihr mehr, Sir?«
Nack gab nur eine Art Miauen von sich. Matthew wartete ab, ob es noch eine Attacke geben würde – das wäre an diesem Abend dann schon der dritte Angriff, dem er ausgesetzt worden war. Nack senkte den Kopf, drehte sich um und marschierte schnell auf dem Weg zurück, den er gekommen war. Er bog links in die King Street ab und nahm sein Laternenlicht mit sich.
Den bin ich los!, hätte Matthew fast gebrüllt. Aber ohne Licht verließ ihn sein Mut. Matthew wusste nicht, ob Nack einen anderen Wachtmeister aufzutreiben versuchte. Und es war ihm auch ziemlich egal. Er nahm seine Tasche, warf einen Blick zurück, um sicherzugehen, dass sich niemand auf ihn stürzte, um ihm einen unbeweglichen Arm um die Kehle zu legen, und machte sich hastig auf den Weg zu Grigsbys Haus.
Noch nie war Matthew so froh gewesen, ein Licht zu sehen, auch wenn es nur eine aus Lochmetall gefertigte Laterne neben dem Lagerhaus war. An der Tür hing der versprochene Schlüssel an einer Lederkordel. Matthew schloss auf, ging mit der Laterne in der Hand drei Stufen hinunter und fand sich in einem Raum wieder, der ungefähr halb so groß wie seine Dachkammer war. Das gestampfte Erdreich des Fußbodens hatte die gleiche Farbe wie Zimt. Die Wände waren verputzt und in einem für ein Milchhaus passenden Sahneweiß gestrichen. Eine unbequem aussehende, mit Hirschfellen bedeckte