Eine der Errungenschaften des vergangenen Jahrzehnts war die beispiellos niedrige Konzentration von Streitkräften und Waffen in Mitteleuropa und in der baltischen Region. Russland ist ein freundlich gesinntes europäisches Land. Für unser Land, das ein Jahrhundert der Kriegskatastrophen durchgemacht hat, ist der stabile Frieden auf dem Kontinent das Hauptziel.
Dass der Weg zu Frieden und Freundschaft in Europa schwierig werden würde, sah Putin damals schon voraus und er sprach es offen an:
Da wir angefangen haben, von der Sicherheit zu sprechen, müssen wir uns zuerst klar machen, vor wem und wie wir uns schützen müssen.
Wir leben weiterhin im alten Wertesystem. Wir sprechen von einer Partnerschaft. In Wirklichkeit haben wir aber immer noch nicht gelernt, einander zu vertrauen.
Tatsächlich lebte die Welt im Laufe vieler Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts unter den Bedingungen der Konfrontation zweier Systeme, welche die ganze Menschheit mehrmals fast vernichtet hätten. Das war so furchterregend und wir haben uns so daran gewöhnt, in diesem Countdown-System zu leben, dass wir die heutigen Veränderungen in der Welt immer noch nicht verstehen können, als ob wir nicht bemerken würden, dass die Welt nicht mehr in zwei feindliche Lager geteilt ist.
Noch vor kurzem schien es so, als würde auf dem Kontinent bald ein richtiges gemeinsames Haus entstehen, in welchem Europäer nicht in östliche und westliche, in nördliche und südliche geteilt werden. Solche Trennungslinien bleiben aber erhalten, und zwar deswegen, weil wir uns bis jetzt noch nicht endgültig von vielen Stereotypen und ideologischen Klischees des Kalten Krieges befreit haben.
Heute müssen wir mit Bestimmtheit und endgültig erklären: Der Kalte Krieg ist vorbei.
Wir müssen uns in Erinnerung rufen, dass Putin diese Rede zwei Wochen nach 9/11 gehalten hat, zu diesem Zeitpunkt gab es noch keinen Krieg in Afghanistan, über einen US-Krieg gegen den Irak wurde noch kaum gesprochen, die Menschen in Ost und West freuten sich noch über das Ende des Kalten Krieges und die Aussicht auf stabilen Frieden.
Im Westen hatte noch niemand Angst vor dem radikalen Islam oder islamischen Terror. Das war in Russland anders. Der Tschetschenienkrieg wird im Westen immer als die russische Unterdrückung eines nach Unabhängigkeit strebendes Volkes dargestellt, die russische Lesart der Dinge wird leider nicht dargestellt. Unabhängig davon, welcher Lesart man folgen will, sollte man aber beide zumindest kennen.
In Russland sieht man den Tschetschenienkrieg als eine von außen durch radikale Islamisten aus arabischen Ländern und Afghanistan eingesickerte Provokation. Aus russischer Sicht lief der Kampf gegen den islamischen Terror, der im Westen erst nach 9/11 ausgerufen wurde, bereits seit 1994. Russland hatte vorher schon islamistische Terroranschläge mit vielen Toten zu beklagen.
Daher war es übrigens auch Putin, der am 11.9.2001 als erster ausländischer Staatschef bei Bush anrief und ihm sein Beileid wegen der Terroranschläge aussprach und jede gewünschte Hilfe anbot. Russland kämpfte damals schon gegen den Terror, auch wenn es im Westen als Unterdrückung der Tschetschenen dargestellt wurde.
Aus dieser Perspektive versteht man, was Putin meinte, als er im Bundestag sagte:
Infolge von Explosionen in Wohnhäusern in Moskau und in anderen großen Städten Russlands kamen Hunderte Zivilisten ums Leben. Religiöse Fanatiker begannen einen unverschämten und großräumigen bewaffneten Angriff auf die benachbarte Republik Dagestan, nachdem sie die Macht in Tschetschenien ergriffen und einfache Bürger zu Geiseln gemacht hatten. Internationale Terroristen haben offen – ganz offen – ihre Absichten über die Schaffung eines neuen fundamentalistischen Staates zwischen dem Schwarzen und Kaspischen Meer angekündigt, des so genannten Kalifats oder der Vereinigten Staaten des Islam.
Schon damals, im Jahr 2001 und vorher, gab es bei den internationalen Islamisten den Versuch, ein islamisches Kalifat oder einen „Islamischen Staat“ auszurufen. Damals noch im Kaukasus, was nach dem blutigen Krieg in Tschetschenien scheiterte.
Im Westen wurden die Begriffe des „islamischen Kalifats“ oder des „Islamischen Staates“ erst einer breiten Masse bekannt, als diese Kräfte 2012 in Syrien und im Nordirak wüteten. In Russland kannte man sie schon über 15 Jahre früher und hat gegen sie im eigenen Land gekämpft.
Dennoch hielt und hält Putin sich vor einer pauschalen Verdammung des Islam zurück, denn in Russland sind ca. 25 Prozent der Bevölkerung Moslems. Putin musste also einerseits den radikalen Islam bekämpfen und gleichzeitig den gemäßigten Islam auf seine Seite ziehen. Wir werden noch sehen, dass ihm dies in den folgenden Jahren gelang, was auch dazu geführt hat, dass viele islamische Länder heute – unbeachtet von den deutschen Medien – ein sehr enges Verhältnis zu Russland haben.
Daher betonte Putin schon bei der Rede im Bundestag, dass er mit dem damals noch nicht so bekannten Buch von 1996 vom „Kampf der Kulturen“ (Originaltitel „Clash of civilisations“, also „Zusammenprall der Zivilisationen“) nicht einverstanden war. Putin sagt damals – und wir werden sehen, dass er es bis heute immer wieder sagt –, dass er keinen Kampf der Kulturen oder Zivilisationen sieht, sondern „nur“ einen Kampf gegen die radikale Auslegung des Islams:
Ich will gleich hervorheben: Ich finde es unzulässig, über einen Zivilisationskrieg zu sprechen. Fehlerhaft wäre es, ein Gleichheitszeichen zwischen Moslems im Generellen und religiösen Fanatikern zu setzen. Bei uns zum Beispiel sagte man im Jahre 1999: Die Niederlage der Aggressoren beruht auf der mutigen und harten Antwort der Bewohner Dagestans – und die sind zu 100 Prozent Moslems.
Münchener Sicherheitskonferenz
Im Jahr 2007 machte die Rede Putins bei der Münchener Sicherheitskonferenz Schlagzeilen. Putin war zu dieser Zeit schon der Buhmann der westlichen Medien, und seine Rede wurde als Provokation empfunden. Und in der Tat wurde Putin in der Rede und vor allem in der anschließenden Diskussion sehr deutlich.
Man muss sich vor Augen führen, dass er diese Rede 2007 gehalten hat. In einer Zeit, als der Irak-Krieg vorbei war und die USA die Massenvernichtungswaffen von Saddam nicht gefunden hatten, dafür aber den Irak destabilisiert und großflächig zerstört hatten. Diese Rede fand vier Jahre vor dem Beginn des so genannten Bürgerkrieges in Syrien und dem Krieg in Libyen statt. Und acht Jahre vor der großen Flüchtlingswelle nach Europa.
In seiner Rede ging Putin auf den Kalten Krieg ein und darauf, dass das Denken in Blöcken danach nicht von allen Verantwortlichen überwunden wurde. Und dann kam er zu Kritik an den USA, die nach dem Kalten Krieg ihre Stellung als einzige Supermacht in einer monopolaren Welt ausbauen wollen. Der Begriff „monopolar“ bedeutet nichts anderes, als dass ein Land die Welt beherrscht. Putin sagte es diplomatischer und ohne die USA zu nennen, doch jeder wusste, wen er meinte:
Die Menschheitsgeschichte kennt natürlich auch Perioden monopolaren Zustandes und des Strebens nach Weltherrschaft. Alles war schon mal da in der Geschichte der Menschheit. Aber was ist eigentlich eine monopolare Welt? Wie man diesen Terminus auch ausschmückt, am Ende bedeutet er praktisch nur eines: Es gibt ein Zentrum der Macht, ein Zentrum der Stärke, ein Entscheidungs-Zentrum.
Es ist die Welt eines einzigen Hausherren, eines Souveräns. Und das ist am Ende nicht nur tödlich für alle, die sich innerhalb dieses Systems befinden, sondern auch für den Souverän selbst, weil es ihn von innen zerstört.
Das hat natürlich nichts mit Demokratie zu tun. Weil Demokratie bekanntermaßen die Herrschaft der Mehrheit bedeutet, unter Berücksichtigung der Interessen und Meinungen der Minderheit. (…)
Ich denke, dass für die heutige Welt das monopolare Modell nicht nur ungeeignet, sondern überhaupt unmöglich ist. Nicht nur, weil für eine Einzel-Führerschaft in der heutigen, gerade in der heutigen Welt weder die militärpolitischen noch die ökonomischen Ressourcen ausreichen. Aber was noch wichtiger ist: Das Modell selbst erweist sich als nicht praktikabel, weil es selbst keine Basis hat und nicht die sittlich-moralische Basis der modernen Zivilisation sein kann.
Damit ist alles, was heute in der Welt geschieht – und wir fangen jetzt