Auch die westlichen Sanktionen ab 2014, der Ölpreisverfall 2014 von fast 100 Dollar auf zeitweise unter 30 Dollar und die Abwertung des Rubel Ende 2014 haben Russland nur für ein Jahr in die Rezession getrieben. Im Gegensatz zu den Krisen der 1990er hat sich Russland nach 2008 als wirtschaftlich so stabilisiert gezeigt, dass selbst ein Katastrophenjahr wie 2014 keinen schweren Schaden anrichten konnte. Die Reserven der russischen Zentralbank sind trotz der schweren Schläge und der folgenden Probleme sogar von ca. 400 Milliarden Dollar Anfang 2014 auf ca. 450 Milliarden Dollar in 2018 angestiegen.
Man muss Putin also nicht mögen, aber man muss wissen, wo Russland stand, bevor er an die Macht kam und wo er es hingeführt hat. Dann kann man verstehen, warum Putin bei vielen in Russland so populär war und ist.
Und dieses Vorwissen, das ich hier in aller Kürze wiedergegeben habe, hilft Ihnen, manche Aussage Putins zu verstehen, wenn er über diese Zeiten zu Beginn seiner Amtszeit spricht.
Nun wollen wir aber Putin selbst zu Wort kommen lassen, und ich möchte Ihnen, verehrte Leserin, verehrter Leser, zeigen, was Putin selbst zu den Themen gesagt hat, die in den letzten Jahren politisch prägend waren oder es heute sind. Ich werde von nun an so wenig wie möglich kommentieren, sondern aus Reden, Interviews, Diskussionsrunden und Pressekonferenzen zitieren, was Putin selbst sagte, beziehungsweise worüber er mit Gesprächspartnern diskutierte. Damit möchte ich Ihnen einen möglichst ungefilterten Blick auf Putins Sicht der Dinge geben und Sie können sich eine eigene Meinung bilden, ob Sie ihm bei dem einen oder anderen Thema zustimmen oder nicht.
Teil 1: Putins berühmtesten internationalen Reden und die Geopolitik
Zunächst möchte ich Putins im Ausland bekanntesten Reden wörtlich zitieren. Es handelt sich um die Rede im Bundestag, die er 2001 auf Deutsch gehalten hat, die Rede bei der Münchener Sicherheitskonferenz 2007 und seine Rede vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen im Jahre 2015.
Beachten Sie, dass sich durch all diese Reden ein roter Faden zieht: der Wunsch Putins nach einer Kooperation mit dem Westen auf Augenhöhe und sein Wunsch, mit Europa eine Partnerschaft und einen „gemeinsamen (Wirtschafts-)Raum von Lissabon bis Wladiwostok“ zu bilden. Der Westen ist auf diesen Wunsch nie eingegangen, und man kann an der Veränderung der Formulierungen erkennen, wie Putin die Politik des Westens und vor allen der USA mit der Zeit immer deutlicher kritisiert.
Bundestagsrede vom 25.9.2001
Als erster russischer Regierungschef durfte Putin am 25.9.2001, nur zwei Wochen nach 9/11, eine Rede im Bundestag halten. Dort konnte man im Kern alle Punkte seiner Politik aus erster Hand und auf Deutsch hören. Punkte, die alle praktisch unverändert bis heute die Politik Putins bestimmen, wie wir in diesem Buch sehen werden.
Über Deutschland sagte er:
Russland hegte gegenüber Deutschland immer besondere Gefühle. Wir haben Ihr Land immer als ein bedeutendes Zentrum der europäischen und der Weltkultur behandelt, für deren Entwicklung auch Russland viel geleistet hat. Kultur hat nie Grenzen gekannt. Kultur war immer unser gemeinsames Gut und hat die Völker verbunden.
In Russland ist man sehr geschichtsbewusst. Im Unterschied zu Deutschland geht das Geschichtsbewusstsein Russlands jedoch über Jahrhunderte zurück, während in der deutschen Wahrnehmung die Nazi-Zeit einen Einschnitt bedeutet und das deutsche Geschichtsbewusstsein sich sehr oft auf politische Allianzen nach 1945 beschränkt. Der zweite Weltkrieg mit seinen 25 Millionen Opfern auf Seiten der Sowjetunion ist auch in Russland immer noch wichtig und präsent, jedoch ist er aus russischer Sicht keine Zäsur wie aus deutscher Sicht. Außerdem haben Deutsche Russlands Geschichte sehr stark und positiv geprägt. Und das ist den Menschen in Russland auf Schritt und Tritt bewusst, denn es gibt Straßen, die deutsche Namen tragen, ehemals deutsche Stadtteile in vielen russischen Städten und sogar einige der wichtigsten Regenten in Russland waren Deutsche oder hatten deutsche Wurzeln.
Dies muss man im Hinterkopf haben, wenn man Putins Ausführungen zur gemeinsamen Geschichte einordnen will:
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, erlauben Sie mir, ein paar Worte zu den deutsch-russischen Beziehungen zu sagen – ich möchte das gesondert betrachten: Die russisch-deutschen Beziehungen sind ebenso alt wie unsere Länder. Die ersten Germanen erschienen Ende des ersten Jahrhunderts in Russland. Am Ende des 19. Jahrhunderts bildeten die Deutschen in Russland die neuntgrößte Minderheit. Aber nicht nur die Zahl ist wichtig, sondern natürlich auch die Rolle, die diese Menschen in der Entwicklung des Landes und im deutsch-russischen Verhältnis gespielt haben: Das waren Bauern, Kaufleute, die Intelligenz, das Militär und die Politiker. Zwischen Russland und Amerika liegen Ozeane. Zwischen Russland und Deutschland liegt die große Geschichte.
Putin, der hervorragend Deutsch spricht, sogar zu Hause mit seiner Frau und den Kindern wurde Deutsch gesprochen, hat ein besonderes Verhältnis zu Deutschland gehabt und dies hier zum Ausdruck bringen wollen, wenn er die geschichtlichen Bindungen zwischen den Ländern erwähnte und durch die Blume sagte, dass ihm Deutschland viel näher ist als Amerika.
Weiter sagte er:
Es ist wichtig, diese Geschichte richtig zu deuten. Wie ein guter westlicher Nachbar verkörperte Deutschland für Russen oft Europa, die europäische Kultur, das technische Denkvermögen und kaufmännisches Geschick. Nicht zufällig wurden früher alle Europäer in Russland Deutsche genannt und die europäische Siedlung in Moskau zum Beispiel „Deutscher Vorort“.
Erinnern Sie sich zum Beispiel an die Tochter Ludwigs IV., des Fürsten von Hessen-Darmstadt: Sie ist in Russland als Fürstin Elisabeth bekannt. Sie hatte ein wirklich tragisches Schicksal. Nach dem Mord an ihrem Mann gründete sie ein Nonnenkloster. Während des Ersten Weltkrieges pflegte sie russische und deutsche Verletzte. Im Jahre 1918 wurde sie von Bolschewisten hingerichtet. Ihr galt eine allgemeine Verehrung. Vor kurzem wurde ihr Wirken anerkannt und sie wurde heilig gesprochen. Ein Denkmal für sie steht heute im Zentrum Moskaus.
Vergessen wir auch nicht die Prinzessin von Anhalt-Zerbst. Sie hieß Sophie Auguste Friederike. Sie leistete einen einzigartigen Beitrag zur russischen Geschichte. Einfache russische Menschen nannten sie Mutter. Aber in die Weltgeschichte ging sie als die russische Zarin Katharina die Große ein.
Putin, damals noch unerfahren in Geopolitik und durchaus naiv, wie er später selbst zugab, sprach eine Vision an, die später zum Kernproblem der Beziehungen zwischen „dem Westen“ und Russland werden sollte:
Niemand bezweifelt den großen Wert der Beziehungen Europas zu den Vereinigten Staaten. Aber ich bin der Meinung, dass Europa seinen Ruf als mächtiger und selbstständiger Mittelpunkt der Weltpolitik langfristig nur festigen wird, wenn es seine eigenen Möglichkeiten mit den russischen menschlichen, territorialen und Naturressourcen sowie mit den Wirtschafts-, Kultur- und Verteidigungspotenzialen Russlands vereinigen wird.
Gleichzeitig bin ich davon überzeugt: Nur eine umfangreiche und gleichberechtigte gesamteuropäische Zusammenarbeit kann einen qualitativen Fortschritt bei der Lösung solcher Probleme wie Arbeitslosigkeit, Umweltverschmutzung und vieler anderer bewirken. Wir sind auf eine enge Handels- und Wirtschaftszusammenarbeit eingestellt.
Die ersten Schritte in diese Richtung haben wir schon gemeinsam gemacht. Jetzt ist es an der Zeit, daran zu denken, was zu tun ist, damit das einheitliche und sichere Europa zum Vorboten einer einheitlichen und sicheren Welt wird.
Russland hat unter den großen Kriegen des 20. Jahrhunderts mehr gelitten als jedes andere Land. Die Verluste im zweiten Weltkrieg waren für Russland enorm: Jeder zweite Tote des Krieges war ein Bürger der Sowjetunion, von den 50 Millionen Opfern des Krieges waren 25 Millionen Sowjetbürger. Zum Vergleich dazu hatte Deutschland je nach Quelle „nur“ 5,5 bis 6,9 Millionen Tote zu beklagen. Daher ist in Russland der zweite Weltkrieg noch immer sehr präsent, denn ausnahmslos jede Familie hatte Opfer zu beklagen und dieses Trauma wirkt fort. Jedoch