Und da war auch wieder das seltsame Gefühl, das sie in der Jagdhütte zum ersten Male gespürt. Sie wußte wohl, daß sie sich dagegen wehren mußte – doch augenblicklich konnte sie es nicht.
»So, jetzt geht es schon besser«, klang seine sonore Stimme auf. »Nun muß nur noch das Köpfchen geschützt werden. Haben Sie keine Mütze?«
»Nein.«
Er griff in seine Tasche, brachte eine Baskenmütze hervor, die er ihr über den Kopf zog. Dann trat er zu dem einen Pferd, bückte sich ein wenig, verschlang die Hände und sah auffordernd zu Almut hin, die langsam näher trat, zögernd den Fuß in die Männerhände setzte und so schwungvoll in den Sattel gelangte. Dann saß auch er auf – und im leichten Trab ging es hinein in den Winterwald.
Immer wieder ging ihr Blick zu Marbod hin, der gelassen auf seinem Pferd saß und mit seiner klangvollen Stimme, die sich immer mehr in Almuts Herz stahl, auf so manche Naturschönheiten aufmerksam machte. Mit immer helleren Augen und weit geöffnetem Herzen nahm sie all das Wunderherrliche in sich auf – und bald lachte sie wieder so unbekümmert und herzfroh, als wäre das Intermezzo nie gewesen.
Der Mann kam auch mit keinem Wort darauf zurück, so daß es Almut leicht wurde, ihre Niederlage zu vergessen.
Als sie das Vorwerk erreicht hatten, gab es für das Stadtkind wieder viel Neues zu schauen. Das schmucke Bauernhaus, das so urgemütlich eingerichtet war, der langgestreckte Stall gegenüber dem Haus, in dem Vieh und Pferde an den Krippen standen und mit Behagen ihr Futter fraßen.
Über die Kälbchen brach Almut in Entzücken aus. Legte die Arme schmeichelnd um deren Hals, schmiegte ihre Wange an die samtweiche Schnauze und lachte hellauf, als eines der kleinen Tiere an ihren Fingern saugte.
Und der Graf mit dem Verwalter des Vorwerks standen dabei und lächelten nachsichtig über das junge Menschenkind, das sich noch so herrlich über etwas freuen konnte, woran sie achtlos vorübergingen.
Die Frau des Verwalters ließ es sich nicht nehmen, den Grafen mit seiner Begleiterin zum Kaffee einzuladen. In der Zeit, wo die Herren durch die Wirtschaft gingen und Almut sich an dem Tierzeug erfreute, hatte Frau Schelluck Waffeln gebacken, die sich nun goldgelb und wunderbar knusprig auf dem Teller häuften.
Selbstverständlich war die beste Tischdecke aufgelegt, die besten Tassen prangten in ihrer Buntheit – und wieder mußte Almut sich an jedem Stück einzeln erfreuen, womit sie die Herzen der Gastgeber im Fluge gewann.
Nachdem der Graf seiner Mutter fernmündlich Bescheid gegeben, daß er und Almut zum Nachmittagskaffee nicht erscheinen würden, nahm man am Tisch Platz.
Der Kaffee war extragut gebraut, die Waffeln mundeten köstlich. Was Wunder, wenn man dabei gemütlich wurde. Dazu hauchte der große Kachelofen seine Hitze in den Raum, der dicke Hauskater schnurrte auf der Ofenbank, der Kanarienvogel sang in seinem Bauer, was die kleine Kehle hergeben wollte – sogar blühende Topfblumen standen auf den Fensterbrettern.
Dann gab es etwas, was Almuts Aufmerksamkeit erregte. Und zwar waren es gerahmte Fotografien an der Wand über dem altmodischen Schreibtisch. Drei der auf den Bildern Dargestellten waren dem Mädchen bekannt, das gräfliche Paar und dessen Sohn.
Doch wer war die Dame auf dem vierten Bild?
Die junge Gräfin – schoß es Almut durch den Sinn. Welch ein hochmütiges Antlitz mit kühlen Augen und einem Mund, dem man es direkt ansah, daß er herrische Befehle erteilen konnte. Daß alles an dem Gesicht so farblos wirkte, machte wohl das sehr helle Haar.
Schade, daß Almut nicht auch die Figur begutachten konnte. Doch an den eckigen Schultern, die noch auf dem Bild sichtbar wurden, mußte man annehmen, daß die Dame überschlank war.
Wie kam der kraftstrotzende, stolze Mann zu dieser Frau, an der alles so empfindlich zu sein schien wie an einer überzüchteten Treibhauspflanze? Sinnend gingen ihre Augen zu ihm hin und trafen mitten in die seinen hinein, die einen fatalen Ausdruck hatten. Also mußte er sie schon längst beobachtet haben.
Wie unangenehm war das. Hoffentlich hatte sich nichts von ihren Gedanken auf dem Gesicht widergespiegelt. Es war gut, daß die Hausfrau sie fragte, ob sie noch eine Tasse Kaffee wünsche.
»Gern –«, atmete Almut auf. »Der ist nämlich gut. Ebenso sind es die Waffeln. Sind die schwer zu backen?« setzte sie naiv hinzu.
»Für so ein feines Fräulein vielleicht«, lachte die Dame mit dem frischen Gesicht unter graumeliertem Haar. »Es will nämlich alles gelernt sein, selbst das Kochen und Backen. Leider wird es von den Herren der Schöpfung nicht genügend anerkannt, überhaupt nicht als Arbeit gewertet.«
»Na, Muttchen, jetzt übertreibst du aber fürchterlich«, schmunzelte der Graubart mit den lustigen Augen. »Das gnädige Fräulein muß ja direkt Angst bekommen zu heiraten.«
»So ängstlich bin ich nicht«, zwinkerte Almut ihm zu. »Ich verstehe es ganz gut, mich meiner Haut zu wehren. Die Zeit, wo die Ehefrauen sich vor dem Herrlichsten von allen demütig duckten, ist nämlich um.«
Das kam so drollig heraus, daß die andern herzlich lachen mußten. Vergnügt strich der Hausherr über seinen Jägerbart.
»Also nicht mehr: Er soll dein Herr sein, mein kleines Fräulein?«
»O nein –«, blitzte sie ihn übermütig an. »Sondern: Gleiches Recht für alle.«
»Forsche Jugend. Hoffentlich läßt die Theorie sich immer in die Praxis umsetzen. Denn auch heute heißt es noch: Der Mann das Haupt, die Frau die Krone. Und wo das Haupt wackelt, da verliert die Krone ihren Halt. Was sagen Sie nun?«
»Daß die Männer selbstherrlich sind, ob jung oder alt«, kam es schlagfertig zurück.
»Bravo –«, lobte die Hausfrau vergnügt. »Das Fräulein gefällt mir. Scheint Mund und Herz auf dem rechten Fleck zu haben.
Aber nun müssen mich die Herrschaften ein wenig entschuldigen. Ich höre soeben den Milchschlitten kommen, da muß ich meines Amtes walten. Wollen Sie mit mir kommen, kleines Fräulein? Die Herren würden Sie mit ihrem Gespräch über Landwirtschaft doch nur langweilen.«
»Gern –«, erhob sich Almut freudig. Als sie an der Tür war, rief Marbod ihr nach: »Nicht zu lange wegbleiben, gnädiges Fräulein. Wir müssen vor Anbruch der Dunkelheit zu Hause sein.«
»Ich liefere das Fräulein schon zur Zeit ab, Herr Graf«, beruhigte Frau Schelluck, dann ging sie in Almuts Begleitung hinaus.
Zuerst kamen sie in die große Küche, wo drei Kinder mit Töpfen in der Hand standen und Almut neugierig musterten. Soeben schleppte ein junger Mann eine Zwanzigliterkanne herbei. Die Kinder bekamen von Frau Schelluck die Milch zugeteilt und trollten ab. Nun ging’s vor die Haustür, wo ein Schlitten hielt, auf dem zwölf große Kannen standen. Die Deckel wurden gelüftet, der Inhalt geprüft, die Literzahl in einem Büchlein vermerkt, dann fuhr der junge Mann, der sich inzwischen auf den Schlitten geschwungen hatte, davon.
»Wo kommt die Milch denn hin?« fragte Almut interessiert.
»Zum Dorf in die Meierei«, gab Frau Schelluck freundlich Auskunft.
»Und warum holen die Kinder ihre Milch nicht aus dem Dorf?«
»Weil sie zu den Deputatenfamilien des Gutes gehören. Wohl haben sie alle ihre von dem Gut gestellte Kuh, doch da drei von ihnen kurz vor dem Kalben stehen, geben sie keine Milch.«
»Warum nicht?«
»Ach, Sie Dummchen«, lachte Frau Schelluck herzlich. »Das ist nun einmal so. Damit die Familien nun nicht ohne Milch bleiben, bekommen sie täglich einige Liter von mir zugeteilt, bis sie ihre Kuh wieder melken können. Klar?«
»Noch nicht ganz«, mußte Almut bekennen. »Aber lassen Sie nur, das begreife ich ja doch nicht. Muß furchtbar schwer sein.«
»Für uns Landbewohner gewiß nicht, das machen wir alles sozusagen im Schlaf. Dafür begreifen wir wieder den städtischen Kram nicht, mein Herzchen.