An der nächsten Ecke passierte es. Christine bemerkte zu spät den Mercedes, der von rechts auf sie zukam. Sie riß das Lenkrad herum. Trotzdem fuhr der Merceds mit Wucht auf ihren rechten vorderen Kotflügel auf. Man hörte das Geräusch von zersplitterndem Glas.
Christine saß ganz still, hielt das Lenkrad mit beiden Händen fest und holte tief Luft. Aus dem Mercedes stiegen ein Chauffeur und Frau Weinert im perfekt sitzenden Schneiderkostüm. »Haben Sie denn keine Augen im Kopf?« schimpfte der Chauffeur. »Ich hatte Vorfahrt!« Christine stieg aus. »Es tut mir furchtbar leid«, sagte sie leise.
»Ach – Sie kenne ich doch!« rief Frau Weinert aus und musterte sie streng. »Sie haben uns doch neulich dieses ausgezeichnete Essen geliefert! Aber Autofahren ist offenbar nicht Ihre Stärke. Sie sind wirklich zu hektisch, junge Frau.«
Christine stöhnte auf. »Ich muß unbedingt in zehn Minuten ein Buffet abliefern!«
»Mit diesem Auto wohl kaum.« Kritisch blickte der Chauffeur auf das verbeulte, zusammengepreßte Blech. »Das sieht nach Totalschaden aus.«
Christine folgte seinem Blick. Verzweifelt sank sie auf das, was von der Kühlerhaube ihres Wagens übriggeblieben war, und brach in Tränen aus.
*
Christine blickte nicht auf, als sie Motorengeräusch hörte. Eine Autotür klappte zu. Dicht neben ihr hörte sie plötzlich eine vertraute Stimme, bei deren Klang ihr ganzer Körper zu beben begann. »Christine! Um Himmels willen, ist dir etwas passiert?«
Sie schüttelte den Kopf und wagte kaum aufzusehen. Christoph Falkenroth stand vor ihr.
»Die junge Frau hat nicht auf die Straße geachtet«, erklärte Frau Weinert mit ihrer unschönen metallischen Stimme, »und nun ist sie in Verlegenheit, weil sie ein Buffet abliefern muß.«
»Wann und wo?« fragte Christoph energisch. Seine Stimme klang entschlossen, als würde er nun alles in die Hand nehmen. Christine sah ihn hilfeflehend an. »Heimatmuseum. In fünf Minuten«, stammelte sie.
»Also los.« In Windeseile hatte Christoph drei große Koffer aus dem Kofferraum seines Wagens geladen. »Sie passen freundlicherweise darauf auf?« sagte er zu Frau Weinert. »Und wenn die Polizei kommt, können Sie ihr ja Frau Kohses Adresse geben. Tulpenweg 7.«
»Na, erlauben Sie mal!« protestierte die elegante Dame, aber niemand hörte ihr zu. Christoph packte die mit Folie bedeckten Schüsseln und Platten in seinen Kofferraum, hielt die Wagentür für Christine auf und raste los.
Während der schnellen Fahrt sprachen sie kein Wort miteinander. Heimlich sah Christoph ab und zu auf ihr feines Profil, aber sie wandte den Kopf nicht. Sie konnte kaum glauben, was geschehen war. So eilig sie es auch hatte – Christine wünschte sich, die Fahrt möchte nie enden.
Mit quietschenden Bremsen hielt Christoph vor dem Seiteneingang des neuen Heimatmuseums, wo ein mißmutig dreinblickender Pförtner schon wartete. »Wird auch Zeit«, war alles, was er sagte.
Christoph antwortete nicht, sondern reichte dem Pförtner die Speisen an und ließ sich von ihm eine Quittung geben. Dann setzte er sich wieder ins Auto. »Christine, sieh mich an!« bat er.
Zögernd wandte sie den Kopf zu ihm. Er blickte sie mit seinen klugen, dunklen Augen zärtlich an, und ihr war, als könnte er direkt in ihr Herz sehen. »Eigentlich müßte ich dich jetzt nach Hause bringen«, sagte er leise. »Aber ich würde lieber mit dir essen gehen. Einverstanden?«
»Einverstanden«, hauchte sie kaum hörbar.
Sie fuhren in ein verschwiegenes kleines Restaurant, das für seine gute Küche bekannt war. Es war noch so früh, daß sie fast die einzigen Gäste waren. Sie setzten sich an einen Tisch im Garten des Restaurants, direkt neben einen großen, duftenden Fliederstrauch.
»Ich hätte nicht zu hoffen gewagt, daß wir uns noch einmal wiedersehen«, sagte er leise. »Ich war schon auf dem Weg nach Hamburg und wollte nicht mehr wiederkommen.«
Sie blickte erschreckt auf. »Meinetwegen?« Im nächsten Moment hätte sie sich am liebsten geohrfeigt. Was bildete sie sich eigentlich ein? Was mußte er nun von ihr denken? Aber er sah ihr nur ernst in die Augen. »Ja«, erwiderte er schlicht.
Christines Herz klopfte wie wild, und sie beugte sich tief über die Karte, die der Kellner gebracht hatte. Eine verrückte Hoffnung keimte in ihrem Herzen auf. War es denn wirklich wahr, daß sie hier mit ihm saß und er sie so ernst und sehnsüchtig anblickte? Sie dankte ihrem Schicksal aus tiefster Seele für den Autounfall.
Sie waren immer noch ein wenig verlegen miteinander. Beim Essen sprachen sie wenig. Jedes noch so harmlose Thema – seine Arbeit, die Kinder, ihre Häuser – schien verfänglich. Aber mit Blicken konnten sie viel mehr sagen als mit Worten. Das Restaurant füllte sich langsam, aber als gäbe es einen geheimen Zauberkreis um sie, blieben die Tische in ihrer direkten Nachbarschaft leer. Anscheinend spürten die anderen Gäste, daß hier ein Paar saß, das ungestört bleiben mußte.
Der Tag war so warm gewesen, daß der Abend nur eine leichte Kühlung brachte. Schwer hing der Duft des Flieders in der Luft, und von der anderen Seite der Gartenhecke drang ganz leise der Gesang einer Nachtigall zu ihnen herüber.
Sie hatten beide nicht viel Appetit, obwohl das Essen sehr gut war. Statt eines Nachtischs bestellte Christoph schweren, süßen Portwein. Der Duft des Weins vermischte sich mit dem des Flieders, so daß Christine der Kopf schwindelte.
»Es dämmert ja schon«, wunderte sie sich auf einmal. »Es ist ja auch schon nach neun«, erwiderte er lächelnd. Christine konnte gar nicht fassen, daß schon soviel Zeit vergangen war. »Was ist mit deinen Koffern?« fragte sie erschrocken. Er winkte ab. »Es ist mir gleichgültig. Ich werde sie schon wiederbekommen. Sag, wollen wir noch einen kleinen Spaziergang machen? Heute ist Johannisnacht.«
Er winkte den Kellner herbei und zahlte. Gemeinsam verließen sie das kleine Restaurant und merkten gar nicht, daß an den Tischen das Gespräch verstummte und die Menschen ihnen lächelnd nachsahen. Sie waren so ein schönes Paar, und soviel Glück strahlte von ihnen aus, daß es alle spüren konnten.
Am Himmel war noch ein rosiger Schein, und doch funkelten schon schwach die Sterne und die silberne Mondsichel. Hinter dem Restaurant begann ein kleines Birkenwäldchen. Die schlanken weißen Baumstämme leuchteten, und zwischen den zarten Blättern konnten sie den Himmel sehen. Der Lärm des Restaurants hinter ihnen verebbte, und wieder war der liebliche Gesang der Nachtigall zu hören, als hätte sie das junge Paar begleitet.
Ganz sacht ergriff er ihre Hand. Dicht nebeneinander wanderten sie durch den stillen Wald, der sich plötzlich zu einer kleinen, blumenbestandenen Lichtung öffnete.
»Du mußt sieben verschiedene Blumen pflücken«, sagte er leise. »Wenn eine Frau sie in der Johannisnacht unter ihr Kopfkissen legt, werden die Träume wahr.«
Sie sah ihn lange an. »Ich werde heute nacht sicher sehr schöne Träume haben.« Sie suchte die sieben verschiedenen Wiesenblumen zusammen, während er am Rand der Lichtung stand und die schlanke Gestalt mit dem leuchtenden blonden Haar unverwandt anblickte. »Ich komme mir vor wie ein Eindringling, der eine Waldfee beobachtet«, sagte er, als sie mit ihrem kleinen Strauß zurückkehrte.
»Haben denn Feen Träume? Ich glaube nicht«, antwortete sie lächelnd. »Feen leben nur in der Gegenwart.« Plötzlich verdüsterte sich ihr Gesicht, und sie sagte leise: »Feen haben auch keine Vergangenheit zu vergessen.«
Er nahm ihre Hand und drückte einen leichten Kuß darauf. »Wer keine Vergangenheit hat, hat auch keine Zukunft.« Er sah in ihr schönes Gesicht mit den großen, sehnsüchtigen blauen Augen und flüsterte: »Von der Zukunft sollst du heute nacht träumen. Und ich hoffe aus ganzem Herzen, daß ich in dem Traum vorkomme.«
Sie nickte sacht und hob ihm ihr Gesicht entgegen. Er schloß sie in seine Arme und drückte sie eng an seine Brust. Christine schloß die Augen. Ihr Herz klopfte