»Soll ich die Polizei anrufen?« drängte Heinrich Zott und sah sich vergeblich nach einem Telefon um.
Christoph straffte sich. »Nein, lassen wir die Sache auf sich beruhen«, sagte er ruhig und energisch. Die anderen sahen ihn verblüfft an. »Aber dieser Mensch darf doch nicht straflos ausgehen!« rief Erika Falkenroth.
»Warum nicht?« Christoph zuckte die Achseln. »Das Wichtigste ist doch, daß der Brief wieder da ist. Mir liegt nichts daran, daß der Mann bestraft wird.«
»Nun ja, vielleicht können wir ihm ohnehin gar nichts nachweisen«, überlegte Heinrich. »Er wird behaupten, der Brief sei zufällig in seine Unterlagen geraten – oder die Kinder hätten ihn hineingeschmuggelt.«
»Haben wir aber nicht!« rief Florentine empört. Sie lief zu Christoph und zog am Saum seines Jacketts. »Freust du dich denn gar nicht, daß du den Brief wieder hast?« Als Christoph in das erwartungsvolle Kindergesicht sah, kam ein wenig Trost in sein kummervolles Herz. Er streichelte Florentines weiche Wange. »Doch, ich freue mich. Sehr sogar.«
Aber als die Gäste die Villa verlassen hatten, teilte Christoph seiner Mutter mit, daß er den Hausstand so schnell wie möglich auflösen und die Stadt verlassen wolle.
Onkel Heinrich und die Kinder eilten zurück nach Hause. Sie kamen gerade in dem Moment an, als Christine in ihrem Schlafzimmer erwachte. Im ersten Augenblick lag sie ganz still, ohne die Augen zu öffnen. Sie wußte, daß irgend etwas Schreckliches geschehen war, und sie fürchtete sich davor, daß es ihr gleich einfallen würde.
Dann öffnete sie die Augen und sah Julia, die neben ihrem Bett auf einem Schemel saß und mit niedergeschlagenen Augen ein Buch las. Ihre langen dunklen Wimpern warfen Schatten auf die runden Wangen. Es war ein so friedliches Bild, daß es dem Herzen wohltat. Christine wandte den Kopf auf dem Kissen, um ihr Kind besser zu sehen. Julia hörte das Geräusch mit ihren feinen Ohren und sah ihre Mutter an. »Mami, du bist ja wach!« rief sie erfreut. »Geht es dir wieder gut?«
Jetzt fiel ihr alles wieder ein – Svens Verrat, seine höhnenden, gemeinen Worte, Christophs blasses, entsetztes Gesicht. Ihr Herz krampfte sich zusammen. Mit einer heftigen Bewegung nahm sie Julia in die Arme und legte die Wange auf das seidige braune Haar des Kindes. »Wenn ich euch nicht hätte!« flüsterte sie leise.
Jetzt ertönten Schritte auf der Treppe, dann klopfte es. Sie fuhr zusammen. »Herein!« rief sie nervös. Ihr Onkel trat ein, gefolgt von Markus und Florentine, die sich auf den Bettrand ihrer Mutter setzten.
In knappen Worten berichtete Heinrich Zott von dem wiedergefundenen Brief und fügte gleich noch hinzu, wie Sven ihn gestohlen haben mußte. Die Kinder unterbrachen ihn ab und zu. »Ich wollte dir ein Bild malen!« zwitscherte Florentine aufgeregt, und Markus rief dazwischen: »Und dabei hätte sie beinahe den Brief vollgemalt und kaputtgemacht!«
»Doch nur die Rückseite!« maulte Florentine. Nach vielen Fragen und Antworten war endlich die ganze Geschichte heraus, und Christine dachte entsetzt, wie schlecht sie Sven doch gekannt hatte. Daß er sie belogen und betrogen hatte, war an sich schon schlimm genug – aber daß er außerdem noch ein Dieb war? Wie hatte sie ihm nur jemals vertrauen können?
»Nie wieder werde ich einem einzigen Menschen in der Welt auch nur ein Wort glauben!« sagte sie spontan. Aber da kam sie schlecht an. Drei helle Augenpaare sahen sie vorwurfsvoll an, drei klare Stimmen riefen im Chor: »Uns auch nicht?!«
Christine mußte lächeln. So sehr ihr Vertrauen auch mißbraucht worden war – den aufrichtigen Blicken und Stimmen ihrer Kinder konnte sie nicht mißtrauen, niemals. Sie schloß alle drei in die Arme und drückte sie fest an sich.
*
Mitternacht war längst vorüber, die Kinder schliefen tief und fest, aber Christine lag immer noch wach und grübelte. Die Gedanken jagten sich in ihrem Kopf. Noch einmal erlebte sie die ganze häßliche Szene mit Sven. Schmerzlich genau erinnerte sie sich, wie sie den treulosen Mann kennengelernt und sich in ihn verliebt hatte, rief sich seine charmante, leichtsinnige Art ins Gedächtnis, die sie damals verzaubert hatte. Jetzt verstand sie das nicht mehr, sie empfand nur noch brennende, peinigende Scham. Sie schämte sich für ihn und für sich selbst, für seine Schlechtigkeit und für ihre Leichtgläubigkeit. Und am schrecklichsten waren diese Momente, wenn sie an Christoph dachte. Was mußte er nun von ihr halten? Sicher warf er sie in einen Topf mit Sven, sicher verachtete er sie aus tiefster Seele. Warum nur tat das so furchtbar weh?
Und sie begriff, daß sie Christoph Falkenroth aus ganzer Seele liebte. Mit ihm wäre sie glücklich geworden, nur mit ihm. Diese Erkenntnis füllte ihr ganzes Inneres mit einem Gefühl schmerzlicher Wehmut. Es war zu spät. Sie hatte ihn unwiderruflich verloren. Sie dachte an die wenigen, glücklichen Momente in seiner Gegenwart und wünschte verzweifelt, daß es mehr gewesen wären, daß sie ihm nur noch einmal nahe sein dürfte… Aber höhnisch klangen die Worte »zu spät« auch in diese sehnsüchtigen Träumereien.
Die ganze Nacht verbrachte Christine mit diesen quälenden Grübeleien. Als es draußen langsam hell wurde, beschloß sie aufzustehen. Schlaf würde sie in dieser Nacht ohnehin nicht mehr finden. Vielleicht würde ein Buch sie ablenken?
Während sie leise die Treppe hinabschlich, um niemanden im Haus zu wecken, fiel ihr siedendheiß das Buffet ein, das für heute nachmittag bestellt war. Sie blieb stehen und schlug sich vor die Stirn. Der wichtigste Auftrag, den sie je gehabt hatte – und sie hatte ihn völlig vergessen. Nichts, überhaupt nichts war vorbereitet. Einen Augenblick lang spürte sie den Wunsch, die ganze Arbeit einfach zu ignorieren. Sollten die Honoratioren im Heimatmuseum eben hungrig bleiben! Aber im nächsten Moment dachte sie an ihre Kinder und an die Verantwortung, die sie für sie hatte. Sie konnte die Existenz, die sie sich aufgebaut hatte, nicht einfach leichtfertig aufs Spiel setzen. Es half nichts, sie mußte die Salate, die deftigen kleinen Blätterteig-Tartes, die Desserts, die leckeren Häppchen rechtzeitig fertigbekommen. Sie ging in die Küche, musterte die Vorräte und begann ihr Werk.
Gegen acht Uhr kam Onkel Heinrich in die Küche und musterte sprachlos das Chaos, das inzwischen entstanden war. »Was ist denn hier los?« Christine sank erschöpft auf einen Küchenstuhl. »Ich schaffe es nicht«, stöhnte sie. »Es ist einfach zuviel für mich.«
»Das wollen wir doch mal sehen!« Heinrich ließ sich erklären, was alles noch getan werden mußte. »Zusammen schaffen wir das!« Ohne ein weiteres Wort eilte er aus der Küche. Kurze Zeit später kam er mit den Kindern zurück, die sich verschlafen die Augen rieben.
»Marsch, zieht euch an!« kommandierte er. »Ich mache solange Frühstück. Und danach helft ihr eurer Mutter.« Christine staunte. Ihr Onkel war nicht gerade geschickt und hatte nur sehr wenige Stunden seines langen Lebens in Küchen verbracht, aber er tat sein Bestes. Binnen einer Stunde hatte Christine vier ungeschickte, aber gutwillige Hilfskräfte, die Gemüse für die Salate und die Tartes schnippelten, Lachs in Streifen schnitten und geschmolzene Schokolade für die Mousse anrührten.
»Wie wäre es, wenn ich Frau Falkenroth anriefe?« schlug Heinrich gegen Mittag vor. »Sie würde bestimmt gern kommen und helfen.«
Christines Gesicht verdunkelte sich. »Nein«, sagte sie hastig. »Das möchte ich auf gar keinen Fall.« Er sah sie verwundert an und wollte Einwände machen. Aber Christine blickte ihn so flehentlich an, daß er nichts weiter sagte.
So sehr die Kinder sich auch anstrengten, es gab doch einige Verzögerungen, wenn sie mit ihren ungeschickten Händchen etwas fallenließen. Genau um halb fünf Uhr nachmittags war alles fertig. Hastig luden Christine und Heinrich die ganzen Köstlichkeiten in den Kofferraum ihres Wagens. Wenn sie schnell fuhr, konnte sie das Buffet pünktlich um fünf beim Heimatmuseum abliefern.
Eilig stieg sie in den Wagen, winkte ihren fleißigen Kindern noch einmal zu und fuhr los. Im stillen war sie dankbar für den Streß und fürchtete sich ein wenig vor dem Moment, an dem sie