„Ich kann auch ein Nikolauslied auf der Blockflöte spielen“, warf Jette ein.
„Halt doch endlich die Klappe“, fuhr ihr Bruder sie an. Und an den Großvater gewandt: „Habt ihr denn da noch an den Nikolaus geglaubt?“
„Nur die Kleinen, wie wir die beiden Jüngsten nannten, die glaubten noch felsenfest an ihn. Deshalb hatte unsere Mutter, also eure Urgroßmutter, tagelang Nikolaus- und Weihnachtslieder mit uns gesungen, die meisten kann ich heute noch auswendig.“
„Sing doch mal eines“, bat Tim, etwas heiser und verlegen.
Großvater räusperte sich. „Ach, solche Lieder kennt ihr heute sicher nicht mehr, zum Beispiel ...“, und er begann mit fester Stimme zu singen:
„Nikolaus, komm in unser Haus, packe deine große Tasche aus.
Stell den Schimmel unter’n Tisch, dass er Heu und Hafer frisst.
Heu und Hafer frisst er nicht, Zucker und Plätzchen kriegt er nicht.
Nikolaus komm, mach mich fromm, dass ich in den Himmel komm.“
„Doch, das kenne ich, das haben wir im Kindergarten gelernt, als wir noch ganz klein waren“, erinnerte Jette sich.“
„Das ist eigentlich ein blödes Lied – als wenn ein Schimmel unter einen Tisch passen würde“, kommentierte Tim altklug. „Aber erzähl trotzdem weiter.“
„Nach dieser Ankündigung, der Nikolaus sei unterwegs, gerieten die Kleinen in helle Aufregung. Sie überhäuften Mama mit Fragen: Würde der heilige Mann wirklich kommen? Und würde er auch was zum Essen bringen, womöglich Süßigkeiten? Und Nüsse? Oder ein Apfelsine? Von Apfelsinen hatten wir bislang nur gehört, aber gesehen oder gegessen hatten wir noch nie eine. Um es kurz zu machen …“
„Du musst es gar nicht kurz machen, ich finde es so schön, wenn du erzählst“, ermunterte Jette ihren Großvater.
„Also gut … das freut mich. Unseren Eltern muss es irgendwie gelungen sein, mit dem Nikolaus Kontakt aufzunehmen, denn tatsächlich waren am Nikolausabend im Flur plötzlich Schellengeläute und Stimmen zu vernehmen. Unser Hund – wir hatten damals einen kleinen Hund mit Namen Schufti, den wir alle liebten – Schufti also gebärdete sich wie rasend. Unser Vater nahm ihn auf den Arm und fing an zu singen:
‚Wer poltert auf der Treppe? Wer poltert durch das Haus? Es ist gewiss, ich wette, der heilige Nikolaus.‘
Unsere beiden Kleinen drängten sich in Mamas Nähe. Irmgard und ich, wir ‚Großen‘, sahen den kommenden Ereignissen gelassener entgegen, aber auch wir waren gespannt. Plötzlich nämlich öffnete sich die Tür und nicht nur der Heilige Mann, mit weißem Bart und ebensolchen Haaren, die Bischofsmütze schief auf dem Kopf und angetan mit einem bestickten Messgewand, schob sich schwankend ins Zimmer, sondern auch ein ziemlich zerzauster Knecht Ruprecht. Den Abschluss bildete ein ebenfalls etwas absonderlicher Engel mit langem weißem Hemd und einer Perücke aus Watte auf dem Kopf.
Ein durchdringender Geruch nach Schnaps lag augenblicklich in der Luft.
Schufti auf Papas Arm bellte wie wahnsinnig und wollte sich beim Anblick dieser seltsamen Gestalten losreißen. Er machte einen solch fürchterlichen Radau, dass ich ihn in die Küche verbannen musste, wo er aber aufgeregt weiterbellte.
Nikolaus lehnte sich erschöpft an die Wand, seufzte tief und wandte sich an Knecht Ruprecht: ‚Merks du wat? Hier is verdammt trockene Luft‘. Er stellte seinen Bischofsstab mit unsicherer Hand in die Zimmerecke und warf einen kurzen müden Blick auf die Kleinen.
‚Na, dann mal los, dann lasst mal wat hören, erst dat Wichtken.‘ Er schloss die Augen. Knecht Ruprecht tat es ihm gleich, nur der Engel mit der Watteperücke verfolgte das Geschehen aufmerksam.
Mama gab ihrer jüngsten Tochter einen aufmunternden kleinen Schubs und Margret begann mit zaghaftem Stimmchen, aber tapfer:
‚Denkt Euch, ich habe das Christkind gesehen.
Es kam aus dem Wald, das Mützchen voll Schnee.
Auf dem Rücken trug’s einen schweren Sack.
Was drin war, wollt ihr wissen?
Ihr Naseweis, ihr Schelmenpack,
denkt ihr denn, offen war der Sack?
Zugebunden bis obenhin!
Es war gewiss was Gutes drin –
Es roch so nach Äpfeln und Nüssen.‘
Erleichtert schmiegte sie sich wieder in Mamas Arme.
‚Soso, dat was zwar kien Nikolausgedicht, aber doch richtig nett‘, brummte der heilige Mann. ‚Knecht Ruprecht, is daor noch wat in den Büdel? Dann do dat Wichtken es ’n Appel or ne Nuss oder süswat.‘ “
Jette unterbrach den Erzähler.
„Du kannst Plattdeutsch sprechen, Großvater?“
„Ja, ich wundere mich selber, dass ich es nicht verlernt habe. Damals konnten fast alle Leute Plattdeutsch, zumindest konnten alle es verstehen“.
„Und? Hat sie was aus dem Sack bekommen? Lass Großvater doch weiter erzählen …“ maulte Tim.
„Nein, nichts zu machen. Knecht Ruprechts Sack hing schlaff über seiner Schulter – leer. Nikolaus riss kurz die Augen auf und schüttelte den Kopf. ‚Leer? Wat’n Pech, awer doar kann ik nu auk nix an doon … wenn dat hier bloß nich so ne trockene Luft wör … und nu sall de Junge wat up siene Flöte piepen.‘
Mein armer kleiner Bruder – er war viel zu aufgeregt. Ich sehe ihn noch vor mir: kurze Hose mit Hosenträgern, an den Beinen lange, braune Strümpfe, ein von Mama gestrickter hellgrauer Pullover mit Zopfmuster um den schmalen Oberkörper, und in den unsicher zitternden Patschhändchen die Blockflöte … Nur mühsam entlockte er dem Instrument ein paar klägliche Töne, gab den Versuch schnell auf und verbarg den Kopf in Mamas Schoß.“
Jette wischte sich die Augen.
„Und der gute, ehrwürdige Nikolaus? Der Kinderfreund? Der Heilige Mann mit Bischofshut, den wir ‚Großen‘ längst als einen Burschen aus der Nachbarschaft erkannt hatten, der sich jedes Jahr gern als Nikolaus zur Verfügung stellte und mit Schnaps bezahlen ließ? Wie reagierte der?
‚Nä, also dat was ja nu gar nix. Doarför bünt wi den ganzen wieden Weg laupen? Hadden de Öllern ehr’n Jungen nich mal ’n paar richtige Flötentöne biebringen kuennt? Sall em Knecht Ruprecht nu de Flötentöne biebrengen? Ruprecht, wo häs du diene Rute? Und denn noch so ne trockene Luft …‘ “
Großvater machte eine Pause.
„Das war ja ein richtig gemeiner, doofer Nikolaus“, entrüstete Jette sich.
„Das kann man wohl sagen …wir alle schwiegen entsetzt. Sogar der bis jetzt unentwegt bellende Schufti in der Küche gab plötzlich keinen Laut mehr von sich. Unser Vater sah den Nikolaus vorwurfsvoll an, streckte den Arm aus und fuhr seinem Jüngsten tröstend durch die Locken. Unsere Mutter schüttelte den Kopf. Ludwig drehte sein Gesicht zu uns, in seinen Augen schwammen Tränen und die Unterlippe zitterte.
Da mischte sich, völlig unerwartet, der absonderliche Engel ein. Trotz der rot geschminkten Backen und der Perücke aus weißer Watte hatten Irmgard und ich auch ihn längst als den netten Sohn vom Bäcker an der Ecke erkannt. Er schlüpfte aus seinen Holzschuhen, ging auf den leise schluchzenden Ludwig zu und zog ihn in die Mitte des Zimmers.
‚Ludwig, auch wenn es mit der Blockflöte nicht so geklappt hat – du kannst doch auch ein schönes Gedicht – sag doch das