Marlies war nicht mehr zu bremsen.
„Und er beklagt pausenlos, dass die Fresspäpste nie – aber auch wirklich nie! – zeigen, wie man einen guten Sauerbraten macht. Der ist denen nicht fein genug. Woher bekommt er jetzt ein Rezept für Sauerbraten? Ludgers Mama hat ihres natürlich mit ins Grab genommen“.
Marlies nahm einen weiteren großen Schluck Prosecco.
„Ist das nicht sowieso ein psychologisches Phänomen, dass Männer immer am liebsten das essen, was sie von Mamas Küche her kennen? Jede junge Hausfrau hat mit ihren kulinarischen Angeboten an den jungen Gatten in den ersten Ehejahren einen schweren Stand. Meine Art Sauerbraten hat bis heute jedenfalls keine Gnade gefunden bei Ludger – deshalb werde ich mich für den Rest meines Lebens hüten, noch einmal einen anzubieten.“
Ich unterbrach ihren Redefluss mit dem Hinweis, man könne beim Metzger doch schon fertig eingelegten Sauerbraten kaufen, aber Marlies winkte ab.
„Vergiss es, bei Ludgers Mama hätte es nie im Leben einen Sauerbraten mit von fremder Hand zubereiteter Beize gegeben. Eine Sauerbratenbeize selber herzustellen ist für eine gute Hausfrau Ehrensache.“
„Und nach welchem Rezept wird Ludger nun vorgehen?“
„Er hat sich wieder eines aus dem Internet gegoogelt … da gebe es mindestens dreißig verschiedene Rezepte, sagt er. Ich bin gespannt, ob sich sein Computerkurs wenigstens diesbezüglich gelohnt hat.“
„Noch einen Prosecco?“
Marlies schaute auf ihre Armbanduhr und erschrak.
„Nein, ich muss mich beeilen … Fräulein, zahlen. Ich lade dich ein, weil du mir so geduldig zugehört hast. Also das mit der Entschleunigung klingt gut, aber dieses Jahr wird bei mir wohl noch nichts daraus.“
„Und wie erfahre ich, wie das mit der Stillen Nacht light gelaufen ist? Das interessiert mich jetzt nämlich brennend.“
„Gib mir deine Telefonnummer, ich werde dir von dem zu erwartenden Desaster berichten … fröhliche Weihnachten – und danke für das Plauderstündchen.“
Weg war sie.
Auch ich stürzte mich wieder in den Trubel, aber getreu meinem guten Vorsatz absolut entschleunigt. Bis zum 24.12. ließ ich mich weder von vorweihnachtlichen Sonderangeboten, Prospekte verteilenden Weihnachtsmännern noch von „Jingle bells“ blockflötenden Musikschülern aus der Ruhe bringen. Ein Bogen Papier mit dem Aufdruck „Entschleunigung“ mit einem roten Ausrufezeichen dahinter klebte an unserer Küchentür, und der Advent verlief insgesamt beschaulich. Die Weihnachtsgans* geriet vorschriftsmäßig, meine Familie genoss das Zusammensein und es irritierte niemanden, dass ich den Tannenbaum wieder mit den bestenfalls als „grenzwertig“ eingestuften, uns aber vertrauten roten Kerzen und Kugeln geschmückt hatte.
Am ersten Weihnachtstag gegen Abend klingelte das Telefon.
„Hallo Ulrike, hier ist Marlies … Hast du die adventliche Entschleunigung durchgehalten? Glückwunsch! Du wolltest doch wissen, wie die Stille Nacht light bei uns verlaufen ist, oder?“
„Ich bin gespannt.“
„Um ehrlich zu sein: Es lief nahezu perfekt! Zumindest, was den Sauerbraten betrifft. Der ist weg, ratzfatz!“
„Ihr müsst also nicht bis Silvester Sauerbraten essen? Was ist passiert?“
„Hast du Zeit? Dann erzähle ich dir alles der Reihe nach.“
Ich machte es mir mit dem Hörer am Ohr auf dem Sofa bequem.
„Es fing damit an, dass in allen Rezepten aus dem Internet für einen typisch rheinischen Sauerbraten Pferdefleisch empfohlen wird. Aber da machte unsere Tanja Theater. Die befindet sich mit ihren vierzehn Jahren nämlich gerade mitten in der Pferdephase, hat ihr Zimmer mit Pferdepostern tapeziert, liest nur Pferdebücher, geht drei Mal in der Woche zum Voltigieren – und nun solle sie an Weihnachten „Trabtrab“ essen? ‚Papa, ich hasse dich‘. So weit wollte Ludger es zum Fest der Liebe nun doch nicht kommen lassen, also ging er brav zum Metzger seines Vertrauens und kaufte einen riesigen Brocken Rindfleisch. Im Internet hatten sie nämlich freundlicherweise eingeräumt, dass man Sauerbraten notfalls auch mit Rindfleisch zubereiten kann. So weit, so gut. Um die vielen Zutaten für die Beize zu besorgen, zog er einen ganzen Nachmittag durch sämtliche Lebensmittelläden der Stadt. Als er mit der Zubereitung anfing, mussten wir alle die Küche verlassen. Der Grund dafür: Die Beize verlange volle Konzentration, denn von ihr hinge das Gelingen eines guten Sauerbratens ab. Nach einer viertel Stunde roch das ganze Haus bis unters Dach nach Essig, aber ich habe mich nicht eingemischt. Ich wurde erst biestig, als ich anschließend das Schlachtfeld in der Küche aufräumen durfte und mein größter Kochtopf mit der Beize und dem eingelegten Braten für den Rest der Woche den Kühlschrank blockierte. Um es kurz zu machen: Das Thema Sauerbraten ist bei uns bis in alle Ewigkeiten gestorben. Ludgers Sauerbraten war nämlich ungenießbar. Viel zu sauer und viel zu weich, das Fleisch war eine einzige Matsche.“ Sie lachte unbekümmert.
„Peinlich, peinlich … und was hat Ludger dazu gesagt?“
„Der war natürlich mindestens so sauer wie sein Sauerbraten, aber er machte einen auf unschuldig. Er hätte sich genau an die Anweisungen aus dem Internet gehalten und könne schließlich nichts dafür, wenn die da Blödsinn veröffentlichen.“
„Und was hast du mit dem vielen Fleisch gemacht? Muss euer Hund jetzt bis Silvester Sauerbraten fressen?“
„Wo denkst du hin, noch nicht einmal der mochte ihn. Der hat bloß die Rosinen gefressen. Aber das ist tatsächlich ein Problem: wohin mit soviel ungenießbarem Fleisch? Klein schneiden und durchs Klo spülen geht nicht wegen der Ratten in der Kanalisation. Ich habe ihn in Zeitungspapier eingepackt und in der Restmülltonne entsorgt. Aber mach dir keine Sorgen – wir sind nicht verhungert, die Vorspeise war okay, ebenso die Klöße aus dem Päckchen und der Rotkohl aus der Dose. Dafür war der Nachtisch sowohl lecker als auch light, wenn auch nicht besonders festlich: Apfelschnee* mit Zimt.“
Wir lachten beide.
„Und jetzt ist bei uns im wahrsten Sinne des Wortes Stille Nacht, allerdings nicht so light wie angekündigt. Tanja hat sich mit ihren neuen Pferdebüchern in ihr Zimmer verkrochen und Ludger schmollt, sitzt aber schon wieder am PC und googelt sich Rezepte für weitere Weihnachtsmenüs raus. Ich hab mir ’ne Flasche Wein aufgemacht und fühle mich endlich total entschleunigt. Aber nächstes Jahr fange ich mit der Entschleunigung schon am 1. Adventssonntag an. Man darf den Erkenntnissen der Soziologen, Psychologen und Anthropologen, was Weihnachten betrifft, ruhig vertrauen. Wie gut, dass wir uns getroffen haben …“
Wir plauderten noch eine Weile, wünschten uns gegenseitig „Frohen Rest“ und nahmen uns vor, in Kontakt zu bleiben.
Eine Stunde später klingelte das Telefon wieder. Wir hatten uns gerade eine CD mit Weihnachtsliedern aufgelegt und Bing Crosby besang seinen Traum von „White Christmas“. „Hier ist noch mal Marlies … Du, ich habe eben beim Aufräumen im Altglas eine leere Flasche Essigessenz gefunden … Stell dir vor, Ludger hat den Sauerbraten mit Essigessenz zubereitet. Als ich ihn darauf ansprach, fragte er mich doch tatsächlich, worin denn – bitteschön! – der Unterschied zwischen Essig und Essigessenz bestünde. Ich habe ihm geraten, auch diese Wissenslücke via Internet zu schließen … Soviel zum Thema ‚Wer lesen kann, kann auch kochen‘. Und das mit der ‚Stillen Nacht light‘ ist endgültig abgehakt. Es sieht übrigens im Moment so aus, als gäbe es stattdessen eine ‚Stille Nacht white‘ – es hat nämlich angefangen zu schneien“.
„Oh,