„Keine Geschenke, sagt Großvater, weder für Erwachsene noch für Kinder. Diese Schenkerei sei mit dem Sinn von Weihnachten überhaupt nicht vereinbar. Ist doch prima, dann brauchen wir uns für nichts und niemand mehr den Kopf zu zerbrechen, auch für Großvater nicht. Für ihn war es doch immer besonders schwer, ein passendes Geschenk zu finden.“
Tim zertrümmerte mit einem mächtigen Hieb die Schale seines Frühstückseis.
„Ist das letzte Wort über diesen mega-ätzenden Plan schon gefallen?“, fragte er grimmig.
„Ja, Mama und ich finden Großvaters Vorschlag großartig, wir sind uns nach gründlichen Überlegungen einig, dass …“
„Na, dann fröhliche Feiertage … toll … wie bei armen Leuten“.
Er stopfte sich den Rest eines Brötchens in den Mund, stieß seinen Stuhl nach hinten weg und verließ wortlos das Zimmer.
Seine Zimmertür knallte.
Jette gab nicht so schnell auf. Wortreich versuchte sie uns davon zu überzeugen, dass diese Idee ganz und gar nicht „cool“ sei und dass sie in Zukunft Mühe haben werde, Großvater und uns weiterhin lieb zu haben. Wir versuchten ebenso wortreich, ihr unseren Entschluss zu erläutern – vergeblich. Schluchzend verließ auch sie den Frühstückstisch.
„Das erzähl ich allen meinen Freundinnen.“
Mein Mann und ich saßen plötzlich alleine am Tisch und rührten in unseren Kaffeetassen.
„Glaubst du, dass diese Entscheidung richtig war?“
„Frag mich was Leichteres“, brummte er.
Der Rest des Tages verlief sehr ruhig. Tim ließ sich nur einmal kurz blicken, füllte sich einen Teller mit Weihnachtsplätzchen und verschwand wortlos wieder in seinem Zimmer. Jette war zu einer ihrer Freundinnen gegangen.
Die folgenden zwei Wochen bis zum Fest verliefen für mich ungewohnt entspannt und friedlich, ohne jegliche Hektik, und ich erwärmte mich immer mehr für Großvaters Idee. Am vierten Adventssonntag fiel wider Erwarten ein bisschen Schnee, ich schmückte wie üblich den Baum, bereitete das Essen vor und genoss es, Zeit zu haben. Die Kinder hatten resigniert. Sie maulten zwar noch dann und wann, aber mein Mann und ich gaben uns heiter und fröhlich – obwohl uns absolut nicht wohl in unserer Haut war. Keine Geschenke zu Weihnachten? Oh je, wenn das nur gut geht …
Großvater rief einmal an und erkundigte sich nach dem Stand der Dinge. Wir gaben wahrheitsgemäß Auskunft, dass wir seinem Vorschlag gefolgt seien und auf Geschenke jeder Art verzichteten.
„Bravo, dann komme ich also.“
Jette und Tim holten ihn vom Zug ab. Die Begrüßung sei etwas kühl ausgefallen, berichtete er uns nach dem Abendessen, als die Kinder das Geschirr und die Reste des Kartoffelsalats in die Küche trugen.
Danach setzten sie sich demonstrativ gelangweilt mit verschränkten Armen auf das Sofa, Jette wippte mit den Füßen und Tim sagte auffordernd und mit Trotz in der Stimme: „Und jetzt?
„Jetzt zündet euer Vater erst einmal die Kerzen an und ich lese euch das Weihnachtsevangelium vor“, sagte mein Schwiegervater und holte aus einer mitgebrachten Tasche ein Gebetbuch. „So haben wir das früher immer gemacht, als wir noch Kinder waren“. Er schlug das Buch an einer mit einem Lesebändchen gekennzeichneten Seite auf und wartete, bis alle Kerzen am Baum brannten.
Ich gebe zu, dass ich nervös war. Das konnte nur peinlich werden …
Großvater aber las den Text mit ruhiger Stimme, ohne Pathos, und die Kinder hörten artig zu. Die Kerzen verbreiteten einen zarten Duft, die vertrauten alten Glaskugeln glänzten wie eh und je, ein einzelner Strohstern drehte sich im Zeitlupentempo. Mein Mann knipste einen Tannenzweig ab, der zu nahe über einer Flamme hing. Von Peinlichkeit keine Spur.
Nach dem letzten Satz „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede den Menschen auf Erden, die guten Willens sind.“ legte Großvater das Lesebändchen wieder ein und schloss das Buch. Jette rutschte von ihrem Platz auf dem Sofa und kuschelte sich eng an ihn.
„Und wann gab es bei euch die Geschenke?“, fragte sie zaghaft.
„Die Geschenke? Ja, die gab es immer nach der Weihnachtsgeschichte, aber was für Geschenke! Ein bisschen Spielzeug vielleicht, oder ein neues Mäppchen für Bleistif te … einmal habe ich einen Zeichenblock bekommen und einen Malkasten, mit zehn Farben und zwei Pinseln, das war toll, aber meistens gab es warme Kleidungsstücke, eine gestrickte Mütze und vielleicht einen dazu passenden Schal, und Handschuhe, oder Socken, über die man sich aber nicht so sehr freute, weil sie meistens kratzten“.
„Und habt ihr auch einen bunten Teller mit Süßigkeiten bekommen?“
„ Ja, sicher, da waren aber immer nur nach alten Rezepten hausgemachte Plätzchen drauf. Nur in einem Jahr hatte es Mandeln zu kaufen gegeben und unsere Mutter hatte selber Marzipankartoffeln gemacht, das weiß ich noch gut.“
„Wir machen auch jedes Jahr selber Marzipankartoffeln, Mama hat das Rezept von Uroma in ihrem Kochbuch,“ unterbrach Jette ihn lebhaft.
„Oh, das würde mich sehr freuen …“, fuhr Großvater in seiner Erzählung fort. „Aber Äpfel und Nüsse und andere Süßigkeiten brachte in meiner Kinderzeit eigentlich immer nur der Nikolaus am 6. Dezember, der und sein Knecht Ruprecht wurden mit größter Spannung erwartet. Der Nikolaus sorgte meistens für einen bunten Teller voller Leckereien, natürlich nicht mit solchen, wie sie die Weihnachtsindustrie heute tonnenweise auf den Markt bringt. Nur einmal …“
Er lächelte vielsagend.
„Was war da? Erzähl doch, war da was Besonderes?“ mischte Tim sich ein.
Großvater lachte nun fröhlich.
„Ich erinnere mich noch gut an den Besuch des Nikolaus im Winter 1946, der war wirklich etwas Besonderes … ach Kinder, wie lange ist das nun her.
1946, der zweite Winter nach dem Krieg, ein besonders harter Winter. Schon Ende November war der erste Schnee gefallen. Wir Kinder freuten uns natürlich über die weiße Pracht, unsere Eltern jedoch sahen wohl eher mit Besorgnis in den grauen Himmel: Woher sollten sie warme Schuhe, Jacken und Mäntel für vier Kinder und zwei Erwachsene nehmen?“
Jette machte ein erstauntes Gesicht.
„Konnten eure Eltern euch keine Kleider kaufen, wart ihr so arm?“
„Jetzt quatsch doch nicht immer dazwischen.“ Tim knuffte seine Schwester.
Großvaters schüttelte den Kopf.
„Nein, damals konnte man keine warmen Kleider kaufen, weil es keine gab, abgesehen davon, dass viele Leute auch gar kein Geld hatten. Man musste sich Kleider selber nähen, wenn man Stoff hatte. Viel schlimmer war, dass unsere Eltern Sorge hatten, wie sie die Wohnung beheizen sollten. Die Stromleitungen funktionierten nicht immer, für die Zentralheizung stand kein Brennmaterial zur Verfügung, und an Gas oder Öl war in jenen Jahren nicht zu denken. Wir hatten in der Küche einen Herd, in dem man Feuer anzünden konnte – wenn man Brennmaterial hatte. Meine Aufgabe war es – ich war ja der Älteste von uns vier Kindern – den nahen Wald nach Brennholz abzusuchen, aber da war ich nicht der Einzige. Es gab außer uns noch viele Familien, die nicht heizen konnten.“
Jette kuschelte sich noch enger an ihn, in ihren Augen glänzten Tränen des Mitleids.
„Noch schlimmer war, dass auch die Regale in der Speise kammer fast immer leer waren. Nur Kartoffeln, wenige Möhren und Steckrüben lagerten dort.“
„Und im Kühlschrank war auch nichts?“
„Nein … hatten wir überhaupt einen Kühlschrank? Ich weiß es nicht mehr. Ach, es waren keine guten Zeiten“, seufzte Großvater. „Aber manchmal war es trotzdem sehr lustig. Zum Beispiel, als der Nikolaus kam, in jenem Winter 1946 … Eines Tages erzählte meine