Plötzlich kam noch mehr Leben in das allgemeine Treiben. Der Präfekt selbst kam im Karren angefahren, mit einem großen Haufen von Beamten und Dienern zu Pferd und zu Fuß um ihn herum. Vor der Gruppe einige schreiende und die Menge mit Hieben traktierende Polizisten. Alles flüchtete schleunigst; chinesische Brötchen und Äpfel kollerten im Staube, Gassenjungen stahlen sie eilends, die Verwirrung benutzend — kurzum, es war für mich ein recht spaßiger Anblick. Neben der Karre ritt mein Beamter von gestern abend, der den Präfekten sofort auf mich aufmerksam machte. Ich bekam nur einen etwas erstaunten Seitenblick, dann war der ganze, sich schnell vorwärts bewegende Zug schon vorüber, und das Leben auf der Straße hatte sein altes Bild wiedergewonnen; nur der schimpfende Obstverkäufer erinnerte noch daran, daß irgend etwas Besonderes vorgefallen war.
Ich ging weiter, vorbei am schönen, halb europäisch erbauten Yamen — einer Mission —, nach Norden durch ein an mittelalterliche deutsche Bauten erinnerndes doppeltes Tor in die innere Stadt. Hier interessierte mich besonders ein hochgelegener Tempel, von dessen oberer Plattform aus man einen herrlichen Rundblick über die ganze Ebene und die zu Füßen liegende Stadt hat. Der schmierige, uns öffnende Priester bekam sein Trinkgeld, mit dem er nicht zufrieden zu sein schien; es war nur Kupfergeld. Vom Europäer erwartet er Silber, denn hier gilt eben jeder Europäer von vornherein als reicher Mann. Es war recht heiß geworden, so daß ich an den Rückweg dachte. Vorbei am offiziellen, übrigens total verkommenen Yamen, kam ich durch ein anderes hohes Tor, in dem die Wahrzeichen chinesischer Justiz, die Verbrecherköpfe in Kästchen, diesmal gleich fünf an der Zahl und ganz frisch abgeschlagen, hingen. Eine ganze andere Anzahl solcher Kästen barg nur noch die Schuhe der hingerichteten Verbrecher, die Köpfe sind wohl begraben worden oder haben vielleicht einen sonstigen Liebhaber gefunden. Chinesische Schädel sind sehr gesucht und verhältnismäßig schwer zu haben. Noch einmal passierte ich einen kurzen Teil der Hauptstraße; mir fiel dabei auf, daß trotz der glühenden Hitze die Mongolen, kenntlich an der Gesichtsbildung, sämtlich in enge Pelze, richtiger wohl Felle, gehüllt waren. Sie machten meist einen überaus stumpfen, schmierigen Eindruck. Im Hotel erwartete mich bereits das fertige Frühstück und zum Dessert die schon erwähnte Rechnung. Man wundert sich nicht mehr so leicht in China über irgend etwas ungewohntes Neues, über diese Rechnung aber war ich denn doch etwas sehr erstaunt. Doch was halfs; im europäischen Gasthause wird nicht gehandelt. Ich berappte, ließ satteln und packen und zog ab gen Süden nach der großen Straße auf Tatung-fu zu.
Zuerst gings durch Vorstädte, dann entlang einer Hügelkette, an der Dörfer lagen. Dem Reisenden fällt hier recht unangenehm auf, daß die Chinesen einfach den Weg als Leitung ihrer Bewässerung benutzen. Das mag ja für den Bauern sehr praktisch sein, für den Reisenden ist es alles andere als angenehm. Weiter fiel mir auf, daß in dieser Gegend auch die Männer silbernen Schmuck trugen, meist übrigens nur in einem Armbande bestehend. Auch hier war alles bei der Ernte, so daß man nicht in Verlegenheit kam, wenn man bei einer der vielfachen Wegkreuzungen nach der Route fragte. Nur einmal wurde ich, scheinbar absichtlich, falsch gewiesen; die Leute schienen das als einen recht guten Witz zu betrachten, denn nachdem ich die angegebene Richtung eingeschlagen hatte, wollten sie sich vor Lachen ausschütten. Ich hatte gleich die richtige Ahnung, daß ich falsch ritt und machte sofort kehrt, worauf alles mit echt chinesischer Feigheit so schnell wie möglich ausriß, ohne daß ich auch nur ein Wort gesagt hatte.
Gegen 5 Uhr kam ich nach Tapingtschwang, dem in Aussicht genommenen Nachtquartier. Ob es das richtige auf meiner Karte angegebene war, ließ sich nicht feststellen, da derselbe Name hier in der Gegend sehr häufig ist. Das Hauptgasthaus war stark überfüllt, so daß ich in ein anderes, weniger volles einzog. Wie man mir später erzählte, erfreute es sich keines besonders guten Rufes in der Gegend, doch war mir das gleichgültig, denn ich hatte wenigstens ein Zimmer für mich und meinen Mafu allein. Spät abends kam noch eine chinesische Partei an und hätte gern in meinem Zimmer mit genächtigt, ich winkte aber ab, so daß sie wieder abzogen. Zu essen bekam man nichts, so daß ich zum ersten Male zu den wenigen mitgenommenen Konserven griff. Die ganze Nacht war Katzenmusik und Hundegebell, dazu fehlte alles Papier an den Fenstern, und als ich gegen Morgen gerade anfing einzuschlafen, wurden meine Ponies, die den neuen Schimmel nicht leiden konnten, lebendig und fingen an, sich unter fürchterlichem Gequietsche zu keilen und zu beißen, so daß ich heraus mußte, um sie auseinander zu binden. Natürlich hatte gerade der beste Pony, Dr. H., einige gottlob nur leichte Hautwunden bei dem Gefecht davongetragen. Es war jedenfalls eine recht geruhsame Nacht.
2. Oktober. Nachdem ich mich mit dem Wirt auseinandergesetzt hatte, marschierten wir gegen 7½ Uhr ab. Zuerst ging es durch hügeliges Gelände mit reicher Bebauung und vielen Ansiedelungen. Nach und nach vereinigten sich alle Wege in einer von den üblichen baumlosen, steil ansteigenden Bergen eingefaßten Schlucht, in der der Tai-schui, ein rasch fließender Gebirgsbach, hinströmt, den man unzählige Mal durchschreitet und der sich oft in mehrere Arme teilt. Viele Maultierkarawanen gingen mit Waren beladen nach dem Innern; man sah keine Kamele mehr. Uns entgegen kamen Maultiere mit Kohlen, sie trugen rechts und links am Packsattel je ein großes Stück. An den steilen Wänden waren kleine Tempel wie Schwalbennester angeklebt, nur noch vereinzelt tauchten Dörfer auf, die Bebauung nahm mehr und mehr ab. Vor Taipingtschwang machten wir in einem Gasthause Mittagsrast, dann gings weiter, und bei dem Orte selbst hatten wir die Paßhöhe erreicht. Der Weg senkte sich schnell und wir gelangten in ein breites, reich angebautes Tal. Die Wege sind nun im Löß bis zehn Meter tief eingeschnitten, die Ränder haben oft verdächtige Neigungen.
Vor Hwai-an kam uns ein Mann entgegen, angeblich aus Yang-liu-tsing. Er hatte an der rechten Hand und am Arm schrecklich eiternde Wunden und bat mich in herzzerreißenden Worten um Hilfe. Wir waren bald an der ganz nett gelegenen Stadt und kamen in einem Gasthause leidlich unter. Der kranke Chinese quälte mich solange, bis ich ihm mit meinen Desinfektionsmitteln seine Wunden auswusch und verband. Um uns herum hatte sich bald eine größere Volksmenge versammelt, die jede Handhabung mit hohem Interesse verfolgte. In der Stadt hatte sich bald das Gerücht von der Ankunft eines europäischen Arztes verbreitet, und noch spät am Abend, als ich schon meine müden Glieder auf dem harten Kang ausgestreckt hatte, wurde ich herausgeklopft, um einer Frau beizustehen, die einer schweren Entbindung entgegensah. Leider war ich aber am Ende meiner Kenntnisse angelangt und mußte dankend ablehnen.
Die Nacht war recht kalt, so daß ich mehrfach aufwachte. Der nächste Tag führte uns zuerst auf recht guten Wegen bis Lin-tsui-tun. Von da ab bis zu dem auf den Karten vermerkten Passe, der sich wenig als solcher markiert, war es recht steinig. Die Hohlwege wurden immer schärfer eingeschnitten. Dicht vor der Wasserscheide liegt ein höchst romantisches Dorf Dju-hsia-örr, hinter der Wasserscheide ein weiterer Flecken Tsiörrling, in dem wir Mittagsrast machten. Wiederum ging es durch tiefe Lehmschluchten, deren Ränder in Absätzen bebaut waren, es gab sogar einige Baumschulen. Aus den Schluchten heraus bekam man zuweilen Einblick in eine sich weithin erstreckende Ebene, in der man den Yang-ho fließen und die Stadt Tientschönn liegen sah.
Gegen 4 Uhr erreichten wir den Ort, der sich durch nichts von andern, ebenso großen Städten unterscheidet. Der Wirt im Gasthause war höchst frech; zuerst wollte er uns in ein kleines Zimmer zusammen mit allem möglichen Gesindel stecken, ich wurde ihm recht deutlich und nahm mir einfach ein besseres Zimmer. Wiederum griff ich meine Konserven an; die mit Recht so beliebte Erbswurst schmeckte vorzüglich und dementsprechend schlief ich auch endlich einmal gut ein. Gegen Morgen wachte ich infolge der Kälte auf. Die Rechnung war recht milde, wofür dem sonst unliebenswürdigen Wirt, den ich um 7 Uhr von seinem Kang holen mußte, viel verziehen wurde. Heute, am 4. Oktober, ging es weiter durch ein mehrfach von kleinen Bächen durchschnittenes Gelände; rechts fließt der Yang-ho, der wenig Wasser hat, noch weiter zur Rechten sieht man auf den hohen Bergen die große Mauer entlang laufen. Die Leute bauen hier Kartoffeln, ab und zu sieht man auch Birkenkulturen.