NOTIZEN EINER VERLORENEN. Heike Vullriede. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Heike Vullriede
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783943408881
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Dazu die Hunde, die jetzt vor der Wohnungstür Wache hielten. So leichtsinnig hatte ich bisher nur ein einziges Mal gehandelt und es bitter bereut. Sie hätten mich töten können, mich vergewaltigen! Niemand wusste, dass ich hier war. Ich forschte in ihren Gesichtern, ob sich in ihnen Begierde oder etwas Mörderisches zeigte. Automatisch wanderte mein heimlicher Blick auf ihre Hosen. An Alexanders Hose klaffte die linke Tasche etwas auf und der zerknüllte Brief von Jens lugte heraus.

      »Darf ich Ihnen etwas anbieten?«

      Buchheim lächelte und zeigte dabei Zähne, was für mich aussah wie eine Fratze, weil er vorher gerade mal ansatzweise gelächelt hatte. Dann schenkte er Tee ein, ohne meine Antwort abzuwarten.

      Sie sahen mich stumm an. Alexander auf dem Sofa wippte mit den Knien. Was wollten sie denn hören? Unsicher nahm ich den Tee, vibrierend vor Spannung. Ich nippte an dem heißen Getränk, um die Pausen auszudehnen, die ich brauchte, um über Jens und seinen Sturz auf die Autobahn zu berichten. Ungern beschrieb ich es so detailliert, wie sie es von mir verlangten.

      »Was glauben Sie, woran er dachte, in diesem letzten Moment?«

      »Wie er mich angesehen hat?« Vor meinen Augen sah ich Jens' entstelltes Gesicht mit dem verschobenen Kinn im Keller des Krankenhauses. Dieses Gesicht, das sich in meinen Kopf gepflanzt hatte und den vorherigen Jens meiner Beziehung und auf dem Brückengeländer fast schon beiseiteschob. Ich glaubte kaum an eine ernste Absicht hinter ihrer Frage.

      »Ich soll den Gesichtsausdruck eines Selbstmörders kurz vor seiner Tat beschreiben? Die Augen eines Freundes, der Sekunden später mit einem fast geplatzten Kopf auf dem Asphalt einer Straße liegt? Ist das Ihr Ernst?«

      Buchheim, noch immer vor dem Tisch stehend und noch immer mit dem Brieföffner hantierend, legte etwas unglaubwürdig Beschwichtigendes in seine Stimme.

      »Es muss Ihnen merkwürdig vorkommen, dass wir so viel vom Tod Ihres – ich darf doch sagen Freundes – hören wollen.«

      Er wartete kurz, ob ich antwortete, doch ich fand keine Worte mehr. Das Zögern, mit welchem er das Wort Freundes bedachte, als übertreibe er damit bereits, machte aus mir eine Randfigur in Jens' Leben, schob mich ganz weit weg, außerhalb ihres scheinbar so intimen Freundeskreises.

      »Wir erleben es jedes Mal, dass die Angehörigen oder Freunde unserer Mitglieder irritiert sind, wenn Sie zu uns geschickt werden. Und das häufig unter den mysteriösesten Umständen. Ich meine diese Nachrichten, die verschlossenen Umschläge und dergleichen. Wie auch hier, im Falle unseres guten Jens.«

      Buchheim lachte gekünstelt auf. Dass er Jens' Freund gewesen sein sollte, hielt ich für einen missratenen Witz! Jens hatte außer mir und einer Handvoll loser Bekanntschaften keine Freunde gehabt. Hätte er welche kennengelernt, hätte er sie mir vorgestellt oder zumindest von ihnen erzählt! Von diesem Haus hatte ich jedoch bis dahin nichts gewusst. Über all die Jahre hinweg war ich seine einzige Vertraute gewesen und nun wollten diese fremden Menschen ihn plötzlich besser gekannt haben?

      Alexander beugte sich nach vorne und streifte dabei meinen Oberarm. Ich betrachtete seine dunklen Haare, die sich im Nacken etwas lockten, und sah zu, wie er mir ungefragt Tee nachschenkte. Er war jung, um einiges jünger als ich und doch hatte er diese bestimmende Ausstrahlung auf mich. Manchen Menschen scheint so etwas in die Wiege gelegt. Mir hat das Leben solch eine Gabe vorenthalten, aber das Leben ist ja nie gerecht. Besonders meines nicht! Schon einmal hatte sich ein Mann wie dieser in mein Leben gepflanzt – lange, bevor ich Jens kennenlernte. Ein Mann mit Führungseigenschaften, ein Alphatier, ein Herrscher! Manuel …

      Ich lernte ihn in einem Taxi kennen. Er stieg ein, obwohl ich vor ihm in dem Taxi saß; er riss die Tür auf, grinste überwältigend und sagte: »Es macht Ihnen doch nichts aus, schöne Frau!« – nicht als Frage, sondern als Feststellung. Dann nahm er neben mir auf der Rückbank Platz – ähnlich wie Alexander, der jetzt auf dem Sofa neben mir saß, mit seinem Körper den meinen berührend – und gab dem Fahrer Anweisung, sein Ziel anzufahren. Er hätte es eilig und könnte nicht auf das nächste Taxi warten. Dafür wollte er mir den Umweg bezahlen. Tja, und ich saß da, stumm und dumm wie ein Fisch, und ließ mich widerstandslos entführen. Unterwegs lächelte er mich unentwegt an. Mich, sechzehnjährig, die bisher allen Jungen egal gewesen war, besonders solchen, die so gut aussahen, und er – Manuel – war bereits ein richtiger Mann.

      Er witterte wohl den einfachen Fang, den er mit mir gemacht hatte.

      »Wenn du kurz warten würdest, fahren wir gleich noch ins Casal, ein Eis essen«, sagte er und zwinkerte mir zu.

      Ich wartete brav im Taxi. Casal, dort aß ich seit meiner Kindheit Eis. Was sollte mir da passieren? Warum also nicht mit ihm ein Eis essen gehen? Und, verdammt noch mal, er sah so gut aus! Warum sollte ich nicht auch mal Glück haben? Man muss auch mal etwas wagen! In Gedanken malte ich mir die neidischen Gesichter meiner schönen Klassenkameradinnen aus.

      Es blieb nicht bei Krokantbecher und Kakao. Manuel wohnte ganz in der Nähe, in der Breslauer Straße, genauso wie meine einzige Schulfreundin, und er erzählte mir die ganze Zeit über, wie hübsch ich wäre und dass er so natürliche Mädchen wie mich besonders mochte und was man jungen Mädchen eben sonst noch so erzählt. Wie im Glücksrausch ging ich mit ihm mit. Schon im Hausflur fasste er mir zwischen die Beine. Ich wand mich, aber ich wollte auch nicht spießig sein. Ich hätte gern einen Freund gehabt und wollte es nicht verderben. Vielleicht waren ja alle Männer so, woher sollte ich das wissen? Er blieb auf der Treppe stehen und lächelte nachsichtig, nahm meinen Kopf in seine großen Hände und küsste mich behutsam. Das war mein erster richtiger Kuss gewesen. Ich genoss diese Zärtlichkeit, den fremden warmen Mund, die weiche Nähe eines anderen Körpers. Ja, es gefiel mir. Ich war sechzehn, alt genug, wie ich fand. Seine Hand fuhr unter meine Bluse, dann in meine Hose. Nun öffnete er die Wohnungstür, schob mich sanft von hinten hinein und schloss ab.

      »Komm her!«, sagte er.

      Als ich zögerte, Bedenken bekam, wegen der abgeschlossenen Tür, zog er mich bestimmend gegen sein Becken und küsste mich wieder – energischer diesmal. Ich schmeckte den Speichel seines Mundes, ließ ihn am Reißverschluss gewähren, fühlte seine Hände auf meinem nackten Po. Ich stöhnte. Es war mir peinlich, dass ich stöhnte. Alles war aufregend neu für mich. Auf einmal spürte ich seinen Gürtel um meine Hände! Trotzdem hielten seine Küsse an und ich empfand ein Gefühl zwischen Angst und Leidenschaft. Ich war sechzehn. Es war meine erste sexuelle Erfahrung.

      Als ich ging, fühlte ich mich wie eine Hure; nüchtern, erwachsen, beschämt … und schuldig, weil ich gestöhnt hatte.

      Manuel holte mich fortan von der Ausbildungsstelle ab, vom Sport ab, von der Fahrschule ab, drei Jahre lang und ich konnte nicht mit, und nicht ohne ihn leben. Er kleidete mich immer schon im Hausflur aus. Sein Gürtel zog sich von Mal zu Mal enger um meine Hände und zwischen den Küssen gab es nun auch Schläge. Ich ging mit immer mehr blauen Flecken nach Hause. Aber niemals im Gesicht. Meine Eltern merkten nichts. Wollte ich ihn verlassen, säuselte er von der Liebe, nach der ich mich sehnte, oder er drohte mir, dass er allen sagen würde, was ich Flittchen mit ihm getrieben hätte … schließlich würde es mir doch auch gefallen.

      Eines Tages hatte er ein neues Mädchen. Von da an war ich ihn los – gepflückt und fallen gelassen. Erst lachte und dann heulte ich, tagelang, wochenlang … und ich vermisste ihn.

      Liebe – was ist das? Gibt es Liebe zwischen Mann und Frau wirklich oder ist es nur eine Erfindung? Elf Jahre lang wagte ich danach keine Beziehung mehr, schämte mich für jeden sexuellen Gedanken. Männer? Ich weiß nicht recht, ob ich Männer seitdem hasse oder fürchte, für ihre Artverwandtschaft mit Manuel.

      Später traf ich Jens. Jens war anders, zurückhaltend, nachdenklich, verstört wie ich, lebensmüde, zärtlich … nur zärtlich … reizlos … der hier, Alexander mit seinen Löckchen im Nacken, sah verdammt noch mal fast so aus, wie Manuel.

      »Was ist das hier eigentlich für eine Vereinigung? Sie sprachen eben von einer Mitgliedschaft.« Ich fragte gereizt, denn neben der anrüchigen Erinnerung bereitete sich der eben noch flüchtige Schmerz ein bleibendes Nest in meinem Schädel. Für diesen Tag, das erkannte ich verbittert,