NOTIZEN EINER VERLORENEN. Heike Vullriede. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Heike Vullriede
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783943408881
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Post …« Seine Stimme klang feierlich zitternd. »… diese Post darfst du erst heute Abend öffnen!«

      »Warum das denn?«

      »Mach' es so, wie ich es dir sage … bitte!«

      »Was hast du vor?«

      »Frag nicht! Es muss alles genau so ablaufen. Wirklich alles! Machst du es so, wie ich es dir sage, ja?«

      »Also gut, heute Abend. Aber dann hast du mir alles zu erklären, okay?«

      Jens sah zu Boden. »Ja, ja.«

      Ich wusste ja nicht, was er vorhatte. Man könnte es mir zum Vorwurf machen. Doch seltsame Andeutungen und geheimnisvolle Untertöne von ihm ließen mich schon lange nicht mehr aufhorchen.

      Wieder sah er auf die Uhr. »Komm, wir müssen los!«

      Ohne sonstige Kommentare zog er mich mehr, als dass ich selbst lief. Und so eilten wir im strammen Gang durch den Hauptbahnhof. Ich immer hinter ihm her. Hinter seinen langen dürren Beinen in der schmutzigen Hose. Kaum noch vorstellbar, dass ich diese Beine zwischen meinen eigenen Beinen geduldet hatte. Dafür verachtete ich mich inzwischen … und ja – dafür hasste ich Jens! Dafür, und weil er mich nicht in Ruhe ließ, wo ich doch kaum mit mir selbst klarkam, und er mir jetzt auch noch die Schuld an seinem weiteren Unglück aufbürdete!

      Wir eilten bis zum Ausgang Freiheit und von dort auf diesen neu gestalteten Platz hinter dem Bahnhof, der die A40 überbrückte. Hier blieb er mit mir stehen und von hier aus blickten wir nach unten auf den fließenden Verkehr.

      Jens beugte sich über das Geländer und fixierte die in unsere Richtung kommenden Fahrzeuge, als wartete er auf ein bestimmtes.

      »Es steht eine Adresse darin«, sagte er, ohne mich anzusehen.

      »In deiner Post?«

      »Ja.«

      »Aber warum gibst du sie mir nicht einfach jetzt?«

      »Das ist eine ganz besondere Geschichte, weißt du. Schwierig, zu erklären.«

      Er verlor während der ganzen Zeit nicht einmal die mit mäßiger Geschwindigkeit anfahrenden Autos aus den Augen. Nur ab und zu schwenkte sein Blick für den Bruchteil einer Sekunde auf seine Uhr. Warum konnte er nicht einfach nur einen unkomplizierten Bummel durch die Stadt mit mir machen? Was hatte ich nur erwartet? Nun stand ich mit ihm auf dieser Brücke, wusste – wie so oft – nicht, was er eigentlich wollte und sehnte mich nach bescheidener Normalität.

      Auf einmal richtete sich Jens auf und riss hektisch seinen Kopf zu mir herum.

      »Jetzt … jetzt …«, rief er und seine Stimme kippte in einen aufgeregten Tonfall, wie ich es noch nie bei ihm gehört hatte.

      Mit einem Satz sprang er auf das Geländer der Brücke. Er wäre fast sofort vornüber gekippt, bevor er einen Stand fand, die Schuhe teils frei schwebend, nur in der Mitte der Sohle von dem schmalen Stahl getragen. Unsicher ruderte er noch mit den Armen, um die Balance zu halten. Bedenklich schwankend drehte er sich auf seinem begrenzten Halt in meine Richtung. Doch bald beruhigte sich sein Körper.

      »Jens! Was machst du?!«

      Ich schrie ihn an! Die Brücke führte mehr als haushoch über die Straßen hinweg. Mir selbst blieb die Luft zum Atmen weg vor Angst, doch in seinen Augen sah ich keine Furcht, eher so etwas, wie – ja, Tatendrang. Es klingt unwirklich, aber genauso kam es mir vor. Erwartungsvoll begeistert und doch aufgeregt ängstlich blickte er mich an, als wollte er sich gleich in nichts weiter als in eine irre Achterbahnfahrt stürzen.

      Im nächsten Moment aber biss er sich auf die Unterlippe, sog sie ein, während er mich noch immer ansah. Dabei verlor sich seine Begeisterung in einem Ausdruck, der direkt in mein Herz griff. Ich spüre es jetzt noch. Sein Gesicht vor mir – in jedem Detail seiner Hautfältchen, seiner Lippen und seiner Augen, lagen die Erinnerungen an unsere gemeinsame Zeit, seine verlorenen Träume und alle Anklagen gegen mich. Ein Gesicht, das ich nie mehr vergessen werde.

      Jens schwankte nicht mehr auf dem Geländer. Er stand still, bewegungslos im vollen Gleichgewicht. Nun sah ich nur noch seine Augen. Traurige Augen.

      »Geh hin! Du bist es mir schuldig«, sagte er ruhig und leise.

      Er wendete sich schwankend um und blickte noch einmal auf die Autobahn unter ihm, vielleicht drei Sekunden lang, während ich tatenlos hinter ihm stand.

      Dann sprang er.

      Einfach so.

      Ohne etwas zu erklären. Ohne sich zu verabschieden. Er sprang einfach so aus unserem Leben.

      Ich weiß nicht mehr, was ich dachte, als ich ihn dort unten liegen sah, mitten auf der A40, zwischen den Autos, die ineinander gefahren waren. Ob ich ihm bestürzt und wie gelähmt hinterherblickte, oder vielleicht sogar froh darüber war, dass er mich endgültig verlassen hatte – dass sein Sturz mich davor bewahrte, ihn eines Tages eigenhändig hinunterzustoßen – ich weiß es wirklich nicht. Ein Fahrzeug hatte nicht mehr bremsen können und ihn nach seinem Aufschlag auch noch überfahren. Sein Körper zuckte und krümmte sich unter dem Wagen. Ich sah es von der Brücke aus und konnte nichts dagegen unternehmen. Es war unbeschreiblich. Einige Leute sahen zu mir nach oben und starrten mich an. Dieses Angaffen – als wüssten sie von den heimlichen Mordgedanken in meinem Inneren, die mir selbst nicht bewusst gewesen waren. Sofort erzeugten meine Finger diesen Schweiß, der vergeblich versuchte, sich wie eine Schutzglasur gegen die Ächtung menschlicher Blicke über meine Haut zu legen.

      Der Krankenwagen kam fast gleichzeitig mit der Polizei. Sie nahmen Jens auf einer Trage mit.

      Unten im Menschengewirr sah ich die Silhouette eines Mannes, der mir bekannt vorkam. Er blickte zu mir hoch und ich hätte schwören können, dass es Marc gewesen war. Ich war mir nicht ganz sicher. Es wäre ein unglaublicher Zufall gewesen. Doch dieses Gesicht in der Ferne, sein langer Blick zu mir nach oben, schien mir, als erkannte die Person da unten auch mich.

      Die Polizisten fragten nicht, warum ich nicht nach unten gelaufen war. Sie nahmen meine Aussage verständnisvoll entgegen. Anscheinend fanden sie es auch nicht verwunderlich, dass ich zitterte und mich immer wieder verhaspelte, während ich redete. Ich denke nicht, dass sie mir misstrauten.

      Ich hatte ihn nicht gestoßen, nicht einmal mit dem Finger berührt!

      Als ich später wieder im Hausflur stand, dort wo mein Ausflug begonnen hatte, dachte ich, wie sinnvoll es doch ist, die Ereignisse des kommenden Tages nicht vorhersehen zu können. Am Morgen fingert man ohne jede Ahnung unbekümmert im Briefkasten herum, beginnt unschuldig und naiv seinen Weg in den Tag und ein paar Stunden später schon fühlt man sich schuldig und schlecht. Wehe dem, der wüsste, welche Unglücke ihn erwarten. Er würde sich weigern, morgens aufzustehen, und sein Leben hassen.

      Ich warf mich auf mein Bett. Jens war noch nicht tot, aber doch so gut wie. So etwas konnte er nicht überleben. Niemand überlebt so etwas! Wollte ich, dass er zurückkommt?

      Wie oft hatten Jens und ich darüber gesponnen, es gemeinsam zu tun. Einfach springen und diese verlogene, uns quälende Welt loslassen. Gemeinsam in der Badewanne unsere Arterien aufschneiden, unser pulsierendes Blut der Leichtigkeit des warmen Wassers übergeben, und dann in unserem erträumten Paradies aufwachen. Ein Paradies, in dem alles Vergangene vergessen sein würde, in dem wir beide geliebte Menschen waren. Doch jedes Mal hatte einer von uns gekniffen – meistens ich. Du lässt mich im Stich – noch heute höre ich sein Heulen. Nie im Leben hätte ich damit gerechnet, dass er es gerade heute wahr machen würde.

      Ich wollte schlafen, mitten am Tag, wenigstens für ein paar Stunden vergessen, doch schon bald erwachte ich wieder. Es ging mir schlecht. Mein Kopf schmerzte, wie eine kurz vor dem Platzen gärende Melone. Dazu war mir übel, als müsste ich das ganze Elend dieses Tages auskotzen. Ich wollte eine von diesen starken Tabletten gegen Migräne nehmen – Sumatriptan – und kramte in der Medikamenten-Schublade, wühlte erst schwitzend dann fröstelnd in sämtlichen Futteralen meiner Handtaschen, aber ich fand nicht einmal die Notreserve. Verzweifelt schluckte ich ein gewöhnliches Schmerzmittel