NOTIZEN EINER VERLORENEN. Heike Vullriede. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Heike Vullriede
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783943408881
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es unbedingt nötig, dass dieser Umschlag seine Empfänger erreicht.

       Du darfst mich nicht vergessen – niemals. Ich werde irgendwo auf dich warten.

       Dein Jens

      Mir wurde klar, dass ich seinen Tod vielleicht hätte verhindern können, hätte ich diesen Brief nur eher gelesen. Aber andererseits wer wusste das schon, vielleicht hätte ich trotzdem nichts tun können. Wahrscheinlich war alles nur eine Frage der Zeit gewesen. Was mich ebenso erschaudern ließ, war der Gedanke, dass Jens nach meinem eigenen Tod irgendwo im Jenseits auf mich warten könnte. Und das dann für alle Ewigkeit! Was, wenn er alle Geister da oben oder da unten davon überzeugte, wie sehr wir seiner Meinung nach zusammengehörten? Egal wo, selbst der Himmel würde mir zur Hölle werden, wenn ich Jens in der Endlosigkeit begleiten müsste; mein Geist gefesselt an seinen Geist.

      Ich versuchte solche Gedanken zu verdrängen und sachlich zu bleiben.

      Jens' Vorbereitungen zu seinem Selbstmord stellten sich wie ein regelrechter Plan dar. Das muss man erst einmal nachvollziehen! Jens verabredete sich mit mir, stimmte unseren Weg durch die Stadt zeitlich ab und sprang, minutiös geplant, von der Brücke – nicht, ohne mir vorher eine Botschaft zu übermitteln. Er sprang vor ein Auto in den Tod. Vor Marcs Auto. Marc – unser gemeinsamer Schulfreund – auch er spielte eine Rolle in Jens' Plan. Warum? Ich musste unbedingt Kontakt zu ihm aufnehmen. Noch heute wollte ich ihn anrufen und Licht in den dunklen gestrigen Tag bringen. Marcs Nummer musste ich noch irgendwo haben, obwohl wir uns seit mindestens zwei Jahren nicht mehr getroffen hatten. Nicht allein deshalb, weil ich seit geraumer Zeit kaum noch jemanden in meine Wohnung ließ.

      Es kostete mich einige Überwindung, Jens' verschlossenen Umschlag, der seinem Abschiedsbrief beigefügt lag, nicht einfach zu öffnen. Haus der Verlorenen – das klang wie ein Heim für Obdachlose oder verlorene Seelen. Ich versuchte durch den Umschlag hindurchsehen, indem ich ihn gegen das Licht hielt. Zwecklos! Was tat ich hier eigentlich? Ich war im Begriff, den Wunsch eines verstorbenen Freundes respektlos zu übergehen. Ich hatte das Gefühl, Jens seinen letzten Wunsch erfüllen zu müssen und den Umschlag an den genannten Ort zu bringen. Und ich war neugierig. Wer verbarg sich hinter dieser seltsamen Einrichtung, von der ich noch nie etwas gehört hatte?

      Weberstraße – das lag irgendwo in diesen uralten Häuserblöcken der Stadtmitte, die ich sonst eher mied. Vom Stadtpark aus war es ein ganzes Stück bis zur City, aber ich brauchte sowieso frische Luft. Also stopfte ich den Brief in die Tasche zurück und ging los, überzeugt, das Richtige zu tun. Abseits des wilden Einkaufsrummels der Fußgängerzone und vorbei an den Junkies am Kopstadtplatz bog ich in die Weberstraße ein. Schon deshalb, weil dort keines der größeren Geschäfte seinen Sitz hat, erinnerten mich diese Straßen hier auch an diesem Tag an eine dunkle, verruchte Gegend. Ich rechnete mit den finstersten Gestalten und verdächtigte innerlich jeden, der mir begegnete, eines Verbrechens. Die Häuser waren alt, hoch, grau und teilweise mit Graffiti beschmiert. Was hatte Jens überhaupt in diese Gegend getrieben? Und was hatte er hier getrieben?

      Eher zufällig entdeckte ich von Weitem die Aufschrift hinter einem verdreckten Fenster: Treffpunkt Weberstraße 9c. Doch dieses Fenster gehörte zu einem leer stehenden Ladenlokal im Erdgeschoss. Nur zögerlich wagte ich mich an das alte Gebäude heran, mit dem Gefühl, dass sich diese Schritte auf mein weiteres Leben auswirken könnten und ich war mir nicht sicher, ob ich das wollte.

      Ein paar über Jahrzehnte hinweg ausgetretene Steinstufen führten mich zu einer massiven Haustür mit einem kleinen Vordach und einem gusseisernen Gitter vor einer längst erblindeten Glasscheibe. Ich drückte auf den verrosteten Klingelknopf für die erste Etage und wischte meinen Finger gleich danach an meiner Hose sauber. Weder ein Türschild noch eine sonstige Beschriftung deutete darauf hin, wer hier wohnte. Es dauerte lange, bis der Summer ging und ich sah mich mehrfach um, weil ich jemanden hinter mir auf dem Gehweg vermutete. Mit ganzem Körpereinsatz stemmte ich die schwere Tür auf und betrat ein unbeleuchtetes Treppenhaus. Muffiger Geruch empfing mich und auf den Wänden prangte in der Düsternis eine gelbliche Tapete mit braunen Ornamenten. Ein deutscher Altbau-Hausflur, wie es sie in Essen noch zu Hunderten gibt, irgendwann in den Siebzigern renoviert, mit einer steilen blutbraun lackierten Holztreppe, die nach oben führte. Alles war still in dem Haus. Ich blieb unten stehen und hoffte, dass mir jemand entgegenkommen würde, um mich zu empfangen.

      Dann jedoch hörte ich doch etwas im Dunkeln. Allerdings keine Menschenschritte, sondern viele Beine und Pfoten trabten von oben über die Treppenstufen auf mich zu. Ein tiefes Grummeln und ein Hecheln begleiteten jeden der schnellen Schritte und mir wurde mehr als unwohl. Aus der Dunkelheit tauchten zu meinem Schreck zwei Rottweiler auf. Groß und schwer verstellten sie mir mit ihren breiten Köpfen den Weg nach vorne. Hunde! Ausgerechnet! Auf bedrohliche Gesten von Menschen wusste ich vielleicht noch zu reagieren – aber Hunde? Hektisch riss ich mich herum und drehte an dem Knauf der zugefallenen Tür. Doch er rührte sich nicht. Ich rüttelte wie wild! Die Tür blieb zu. Hinter mir schwoll das Grummeln der Tiere immer mehr zu einem gefährlichen Gemisch aus Knurren und Bellen an, aber ich blieb hoffnungslos gefangen zwischen ihnen und dieser elenden Tür. Ruhig bleiben, ermahnte ich mich, nachdenken und bloß nicht in die Augen sehen! Langsam, ganz langsam, um sie nicht noch mehr zu provozieren, wandte ich mich ihnen zu, kaum gewillt, die Augen auf sie zu richten. Nur wenige Zentimeter von meinem Leib entfernt fletschten sie ihre spitzen Zähne, knurrten und sabberten bis in die äußersten Falten ihrer fleischigen Mäuler. Mir brach der Schweiß aus! Wer wusste, wie lange sie sich noch beherrschen konnten?

      »Zeus! Odin!«

      Eine laute Stimme lenkte die Tiere ab. Gleichzeitig ging das Licht im Hausflur an. Sie verstummten und wendeten ihre monströsen Köpfe zur Treppe hinauf, wo ich zu meiner Erleichterung einen Mann stehen sah. In diesem Moment war mir völlig egal, wer er war, Hauptsache er schaffte mir die Viecher vom Leib. Als er sie erneut zurückrief, ließen sie endlich von mir ab und stürmten nach oben.

      »Ihre Tür klemmt«, rief ich zitternd hoch.

      Der Mann antwortete nicht.

      Ich versuchte noch einmal vergeblich die Tür hinter mir zu öffnen. Es war zwecklos.

      »Ich wollte hier nur etwas abgeben«, ergänzte ich mit brüchiger Stimme und gab meinen Fluchtversuch auf.

      »So? Dann kommen Sie hoch!«

      Mein Blick fiel von unten nach oben auf einen der Hunde, der neben ihm am Geländer der Treppe stand und mich erbost fixierte.

      »Was ist mit den Hunden?«

      »Odin! Zurück! Los, ab mit dir!«

      Augenblicklich zog sich das Tier hinter dem Mann in die Räume zurück.

      »Kommen Sie hoch!«

      Er verschwand hinter seinem Hund.

      Dass ich tatsächlich nach oben ging, obwohl ich dort nichts Angenehmes vermutete, lag allein an der verschlossenen Haustür. Was sollte ich sonst tun?

      Schritt für Schritt nahm ich die etwas zu hohen Stufen bis zur ersten Etage. Unter mir knackten uralte Holzdielen. Vor der Tür wagte ich nicht einzutreten, sondern klopfte nur kurz an den Rahmen.

      Daraufhin tauchte der Mann wieder auf. Ich schätzte ihn auf Mitte fünfzig. Er trug einen dunklen Anzug mit schwarzem Hemd darunter. Die altmodischen Bundfalten seiner Hose stießen auf seine Schuhe, die wiederum glänzten, wie täglich poliert. Auf die Schnelle fand ich nichts Ungewöhnliches an ihm, außer, dass seine Brille an einer goldenen Kette vor seiner Brust baumelte. Eine Art Brillen zu tragen, die ich nicht mag.

      Mich überfiel gleich das Gefühl, dass ich besser nie hier aufgetaucht wäre. Nicht nur wegen der Hunde. Sein Blick schien mir ungehalten – nein – ärgerlich! Als hätte ich ihn aus einem wichtigen Gespräch gerissen oder aus einem Nickerchen. Am liebsten wäre ich direkt umgekehrt.

      »Ja, bitte?!«

      Er musterte mich von oben herab, ohne zu lächeln. Nervös wühlte ich in meiner Jackentasche und förderte Jens' verschlossenen Umschlag zutage. Ich ärgerte mich über diese Nervosität, doch