JUDAS GOAT. Greg F. Gifune. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Greg F. Gifune
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958353336
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Tabitha besteht darin, dass sie immer mehr auf dich abfärbt. Du hättest sie nie bei dir einziehen lassen dürfen.«

      »Tu mir bitte den Gefallen und schaue ab und zu mal nach ihr, in Ordnung?«

      Er drehte sich vom Spiegel weg und sah ihn an. »Meinst du das etwa ernst? Tabitha hasst mich.«

      »Dann tu es für mich.«

      Walter stieß einen langen, dramatisch klingenden Seufzer aus. »Okay.«

      »Ich fahre jetzt wohl besser los.«

      Er schenkte dem Waschbecken erneut seine Aufmerksamkeit. »Was wirst du dort am Ende der Welt denn tun? Davon einmal abgesehen, die ganze Angelegenheit mit diesem Mädchen ist und war immer ein wunder Punkt von dir. Warum willst du den ganzen negativen Mist aus der Vergangenheit denn bloß wieder ausgraben? Was könnte dabei denn Gutes herauskommen?«

      »Es ist einfach etwas, dass ich tun muss.«

      »Schön, dann tu es eben.« Er rasierte sich weiter. »Fahre dorthin, schaue dir die Vögel und Kaninchen und den ganzen Mist, den die Menschen dort machen, an. Was immer sie dort auch tun. Mach alle sentimental wegen einer alten Freundin, die du vor einer Million Jahren kaum gekannt hast. Und wenn du von diesem Vergnügen irgendwann genug hast, dann verkauf den Krempel zu einem möglichst hohen Preis. Mit diesem Geld und meinem Honorar für den Fernsehspot könnten wir nämlich eine Produktion des Stückes auf die Beine stellen … so, wie wir das immer besprochen haben.«

      »Ja«, sagte Lenny, war sich aber voll und ganz bewusst, dass er gerade log. »Sicher.« Walters Gesicht löste sich vor seinen Augen auf und verwandelte sich in Sheenas Antlitz. Er behielt es für ein Weilchen im Blick, bevor ihm auffiel, dass es sie als Neunzehnjährige zeigte – das einzige Bild, das Lenny jemals von ihr gekannt hatte.

      Aus irgendeinem Grund war ihm noch nie zuvor aufgefallen, dass die Zeit in seiner visuellen Erinnerung an sie offenbar stehen geblieben und erheblich veraltet war. Vor ihrem Tod, als Sheena schon jahrzehntelang von ihm fortgegangen war, war sie eine knapp vierzig Jahre alte Frau gewesen.

       Mein Gott, wo zum Teufel war nur die Zeit geblieben?

      Er fragte sich, ob sie ihn als Neununddreißigjährigen erkannt hätte. Hatte sich sein Aussehen erheblich verändert? In ihren Augen wahrscheinlich schon. Wie hätte es auch anders sein können? Das Leben änderte schließlich jeden. Lenny fuhr daraufhin weiter und ließ die Stadt hinter sich.

      ***

      Nach fast sechs unerträglich monotonen Stunden, in denen er durch Teile von Connecticut und Massachusetts gefahren war, kam Lenny endlich in New Hampshire an. Mehr als eine Stunde später stieß er auf einen großen Rastplatz, zu dem auch ein Imbiss und ein Informationszentrum gehörten. Auf der anderen Straßenseite befand sich am Straßenrand ein kleines Motel. Da der Imbiss noch geöffnet hatte, hielt er für einen kurzen »Boxenstopp« dort an. Er hatte den ganzen Tag noch nichts gegessen und außerdem seit einer kurzen Toilettenpause vor mehreren Stunden seine Beine nicht ein einziges Mal mehr ausgestreckt. Gemäß seiner Wegbeschreibung war er noch ungefähr dreißig Minuten von seinem Ziel, einer kleinen ländlichen Gemeinde namens Trapper Woods, entfernt.

      Auf dem Parkplatz standen neben einigen Autos hauptsächlich Sattelschlepper und LKWs. Nachdem auf dem Highway nur wenig Verkehr geherrscht hatte, war Lenny über diesen regen Betrieb auf dem Parkplatz mehr als erstaunt.

      Er stieg aus seinem Fahrzeug aus, zog seinen Mantel über und zündete sich eine Zigarette an. In New York war es schon kühl gewesen, aber hier war es bedeutend kälter. Nachdem er stundenlang nur die endlos langen und dunklen Autobahnen, über die er gefahren war, gesehen hatte, half ihm die kalte Luft jetzt, wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Nach ein paar schnellen Zügen schnipste er die Zigarette weg und ging über den schmutzigen Parkplatz zum Imbiss hinüber. Eine Leuchtreklame erhellte den Bereich so gut, dass Lenny auf seiner Armbanduhr die Uhrzeit lesen konnte. Es war genau 23:23 Uhr.

      Er trat ein und wurde von einem warmen Luftstoß, kombiniert mit dem Geruch von gekochtem Kaffee und gebratenem Essen, begrüßt. Lenny schlängelte sich zur Theke durch, wählte einen Hocker und streckte dann seine Hand nach der laminierten Speisekarte aus, die zwischen zwei Serviettenspendern steckte. Er sah sich neugierig um: Überall Resopal und Edelstahl, ein grauhaariger, hastig arbeitender Schnellkoch in einer offenen Küche direkt hinter der Theke, zwei Bedienungen, die Teller mit dampfendem Essen balancierten und zahlreiche Reisende und LKW-Fahrer, die an den Tischen entlang des Thekenbereichs saßen. Rechts vom Eingang standen mehrere Video-Arcade-Spiele, Flipper und Automaten an den Wänden aneinandergereiht. Jenseits davon befanden sich die Toiletten. Die fetthaltige Luft war mit den Geräuschen von brutzelndem Fleisch, klirrenden Küchenutensilien, Tellern und ständigem Stimmengewirr erfüllt. In seinen Jahren als Schauspieler hatte er gelernt, Dinge genau zu untersuchen und Kleinigkeiten zu erkennen, die anderen vielleicht entgingen. Künstler zu sein bedeutete zu einem großen Teil auch, die Welt – jeden und alles – mit wachsamem Auge zu betrachten, immer darauf bedacht, alles, was sich vor einem abspielte, in sich aufzunehmen und zu beobachten. Jede Kleinigkeit konnte später in seiner Arbeit verwendet werden. Lenny öffnete die Speisekarte. Was mal meine Arbeit war, dachte er. Es war immer noch schwer, mit dieser Gewohnheit zu brechen.

      Eine der Kellnerinnen erschien jetzt mit gezücktem Notizblock vor ihm. Lenny bestellte ein Puten Club-Sandwich und eine Cola, stützte sich auf die Theke auf und drehte seinen Kopf langsam hin und her, wobei seine Augen beiläufig von einer Person zur nächsten wanderten.

      Zwei LKW-Fahrer, die sich offenbar kannten, saßen weiter unten an der Theke auf Hockern. Eine Frau mittleren Alters im Hosenanzug saß an einem anderen Tisch und telefonierte gerade mit ihrem Handy. Sie bemerkte seinen Blick und zog missbilligend eine Augenbraue hoch.

      Er schaute hastig weg.

      An einem weiteren Tisch verschlangen ein Mann und sein kleiner Sohn Cheeseburger, wobei sie ganz offensichtlich die Gesellschaft des anderen sehr genossen. Lenny erschien es sonderbar, dass der Junge zu dieser späten Stunde noch wach war. Vielleicht waren er und sein Vater ja gemeinsam auf einer Reise oder auf dem Rückweg von irgendeiner Veranstaltung und hatten sich zu einer kurzen Pause entschlossen, um eine Kleinigkeit zu essen. Vielleicht war es eine besondere Gelegenheit, die dem Jungen erlaubte, über seine Schlafenszeit hinaus wach zu bleiben. Möglicherweise hatte er ja heute auch Geburtstag, dachte Lenny. Es erinnerte ihn an die Zeiten, in denen er und sein Vater – nur sie beide – außer Haus essen gegangen waren. Dies waren seltene, aber erinnerungswürdige Vorkommnisse gewesen. Sein Vater war einige Jahre zuvor gestorben, und Lenny beneidete den kleinen Jungen insgeheim, der so voller Hoffnung und Unschuld bei einem Burger mit seinem Vater zusammensaß.

      Als Lenny einen Blick zum Thekenende warf, sah er dort einen Mann an einem der Flipperautomaten im Nebenraum spielen. Der Mann, schlank und dünn, aber kräftig gebaut, war Anfang zwanzig und mit einer schwarzen Jeans, schwarzen Stiefeln, einem schwarzen Kapuzenshirt und einer schwarzen Lederjacke bekleidet. Sein ebenfalls schwarzes, dichtes und gewelltes Haar war straff aus der Stirn gekämmt, und er trug einen äußerst gepflegten Spitzbart. Eine dunkle Sonnenbrille baumelte vom Ausschnitt seines Sweatshirts herab, wo er sie zu einem früheren Zeitpunkt an diesem Tag befestigt und vielleicht dort vergessen hatte.

      Die Kellnerin kam nun zurück und stellte einen Teller vor ihn hin. Sein Puten-Club-Sandwich thronte auf einem Berg dicker, vor Fett triefender Zwiebelringe. Er konnte schon jetzt das Sodbrennen spüren.

      »Sonst noch was, Schätzchen?«

      »Ich bin gerade auf dem Weg zu einer Stadt namens Trapper Woods. Wissen Sie, ob es dort anständige Motels gibt?«

      »Dort gibt es keine Motels, schließlich wohnen in der ganzen Stadt gerade mal fünfhundert Einwohner.« Sie zeigte zu dem Motel auf der anderen Straßenseite. »Da drüben gibt’s aber eins.«

      »Wie sind denn die Zimmer dort?«

      Sie lächelte verschmitzt. »Schätzchen, wieso glauben Sie denn, dass ich das weiß?«

      Lenny lachte und biss statt einer Antwort schnell in sein Sandwich.

      Noch