JUDAS GOAT. Greg F. Gifune. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Greg F. Gifune
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958353336
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verdankte er ihr so viel. Während all der Jahre hatte er fortwährend an sie gedacht und – da er ihr nie hinterhergelaufen war – oftmals mit dem Gedanken gespielt, zu versuchen, sie zu finden. Letzten Endes hatte er sich aber bemüht, all diese Ideen zu begraben und sein Leben einfach weiterzuleben. Aber als der Anwalt anrief und ihn über Sheenas Tod, ihren letzten Willen und ihren Nachlass informiert hatte, war alles sofort wieder in ihm hochgekommen.

      Die Nachricht hatte ihn mehr getroffen, als er sich jemals hätte vorstellen können. Ein Kloß, der sich zunächst in seinem Hals gebildet hatte, war anschließend in seine Eingeweide gekrochen und hatte sich dort eingenistet. Ihm war übel gewesen und er hatte sich benommen gefühlt, während ihm die Tränen in die Augen geschossen waren. Aber Lenny war sich nicht sicher, ob seine Tränen nur Sheena gegolten hatten oder ob er auch um sich selbst geweint hatte. Das spielte aber eigentlich auch kaum eine Rolle. Unzählige Gedanken und Erinnerungen hatten bereits begonnen, in einem Wirbelwind von Bedauern, Ablehnung und Trauer in seinem Kopf herum zu spuken. Sie war tatsächlich zu ihm zurückgekommen, wenn auch nicht so, wie er es sich gewünscht oder manchmal vorgestellt hatte. Aber jetzt war es zu spät, die Dinge zu sagen, die er hätte sagen müssen, und alles richtigzustellen.

      Vielleicht hatte sie ja ebenfalls versucht, genau dies in ihrer seltsamen Art und Weise mit der Vererbung ihres Häuschens zu tun.

      Während er die Triborough Bridge überquerte, glitten die reflektierenden Lichter der Stadt über die Windschutzscheibe des Chevy Impala. Lenny wiederholte immer wieder frühere Gespräche mit ihr in seinem Kopf, als wolle er sich selber versichern, dass sie tatsächlich stattgefunden hatten.

      Als er damals nach New York gekommen war, um wie Tausende andere junge Anwärter Schauspieler zu werden, hatte Lenny zuerst als Küchenhilfe und dann als Kellner gearbeitet. Letzten Endes hatte er einen Nachtschicht-Job in einem Hotel angenommen, sodass er tagsüber seine Runden machen, zu Vorsprechen gehen und Schauspielunterricht nehmen konnte. Das Gehalt war allerdings leider bei Weitem nicht so hoch, der Job dafür aber auch leichter. Eine ziemlich einfache Angelegenheit; die meiste Zeit während seiner Schicht verbrachte er mit Lesen oder Fernsehen. Das kleine tragbare TV-Gerät war an der Wand über der Rezeption befestigt. Hätte es Ärger gegeben, hätte er entweder sofort die Polizei gerufen oder – falls nötig – auf den Baseballschläger hinter dem Empfangstisch zurückgreifen können. Aber in all den Jahren, in denen er dort gearbeitet hatte, hatte er nur zwei Mal selbst eingreifen müssen. Normalerweise reichten bloße Drohungen bereits aus, um die betrunkenen Gäste – Junkies und Prostituierte, die das Hotel aufsuchten – nach draußen zu verweisen. Darüber hinaus hatten ihn die meisten Stammgäste über die Jahre hinweg richtig kennengelernt und machten ihm deshalb nur selten das Leben schwer.

      Obwohl Lenny mehrere lockere Bekanntschaften hatte, fühlte er sich nur einer Person gegenüber zum Abschiednehmen verpflichtet. Walter Jansen, sein engster und ältester Freund. Er wusste, dass er auf ihn zählen konnte, wenn es darum ging, den anderen seine Abreise zu erklären. Er fühlte sich einfach nicht dazu in der Lage, bei jedem Einzelnen vorbeizufahren und immer und immer wieder zu erläutern, warum er wegfuhr.

      Er und Walter hatten sich vor Jahren beim Schauspielunterricht getroffen. Obwohl Lenny mehr als ein Jahrzehnt hart gearbeitet hatte, hatte er nie viel in der Schauspielbranche erreicht. In seiner Karriere hatte er lediglich kleine Rollen in ein paar Off-Off-Broadway-Stücken und ein paar Auftritte, ohne größeren Erfolg vorzuweisen.

      Walter war größer als Lenny, sah besser aus, hatte eine bessere Figur und, wenn Lenny ehrlich zu sich selber war, war Walter auch wesentlich talentierter als er. Er war deshalb auch immer erfolgreicher gewesen als Lenny.

      Er hatte einige kleinere Bühnenrollen und ein paar anständige Rollen in unabhängigen Low-Budget-Filmen ergattert. Vor wenigen Monaten hatte er sogar in einem Werbespot des nationalen Fernsehens mitgewirkt, der ihm in einem Monat mehr Geld eingebracht hatte als in den ganzen zehn Jahren zuvor.

      Vor ein paar Jahren hatte Lenny aufgehört, zu Vorsprechen zu gehen und entschieden, dass er davon endgültig genug hatte. Die Enttäuschungen und die ständigen Misserfolge, etwas Bedeutungsvolles oder gar Künstlerisches als Schauspieler auf die Beine zu stellen, hatten ihm letzten Endes seine einstige Leidenschaft für dieses Genre ausgetrieben. Nachdem ihm bewusst geworden war, dass er auch nicht jünger wurde und seine Träume höchstwahrscheinlich niemals Früchte tragen würden, sah er einfach keinen Sinn mehr darin, sich selber etwas vor- und weiterzumachen, und doch fühlte er sich durch den Abschied von der Schauspielerei und die unbedeutende Nachtarbeit im Hotel noch leerer und unsicherer … nicht nur in Bezug auf sein Leben und seine Zukunft, sondern auch auf sich selbst.

      Am Morgen, bevor er die Stadt verließ, war er schließlich zu Walter gefahren.

      Walter hatte ihm die Tür mit einem um die Hüfte geschlungenem Handtuch und einem mit Rasierschaum verschmierten Gesicht geöffnet. Sein dickes Haar war nach dem Duschen noch nass, aber schon gestylt und ordentlich gekämmt gewesen.

      »Komm’ rein. Später treffe ich mich noch mit dieser neuen Agentin, von der ich dir erzählt habe«, erklärte er ihm, während er Lenny durch das winzige Appartement zu einem ebenfalls engen Badezimmer führte. »Diese Tussi redet von weiteren nationalen Werbesendungen und regelmäßigen Sprechproben für Gäste, die im Netzwerk auftreten. Das klingt alles ganz schön verheißungsvoll.«

      Nach Jahren großer Anstrengungen schien Walter jetzt offenbar endlich den Durchbruch geschafft zu haben. Obwohl Lenny ein wenig Eifersucht auf ihn nicht unterdrücken konnte, freute er sich dennoch aufrichtig für ihn.

      »Hier passiert so viel Gutes im Moment und du lässt mich einfach sitzen.«

      »Na, komm schon – ich lasse niemanden sitzen. Ich bin …«

      »Deine Entscheidung, dich ganz von der Schauspielerei zu verabschieden, war falsch.«

      Er verstummte und fuhr sich, vor dem Badezimmerspiegel stehend, mit einem Rasierer über sein Gesicht. »Auch jetzt machst du einen Fehler. Übrigens, herzlichen Glückwunsch! Abendessen und Kinobesuch gehen auf meine Kosten, wenn du wieder zurück bist.«

      »Danke. Ich wollte nur eben „Tschüss“ sagen, bevor ich losfahre. Das ist alles.«

      »Warum sagst du das denn so, als kämest du niemals zurück?«

      »Weil ich vielleicht wirklich nicht zurückkomme.«

      »Schwachsinn. Was willst du denn den ganzen Tag in irgendeinem Häuschen in Vermont machen?«

      »New Hampshire.«

      »Egal. Du bist schließlich ein waschechter New Yorker, Lenny. Die Stadt ist dir in Fleisch und Blut übergegangen.«

      »Das war einmal … als ich noch geglaubt habe, es schaffen zu können.«

      Walter stellte das Rasieren so lange ein, dass er mit seinem Rasierer auf das einzige Fenster im Zimmer zeigen konnte. »Dort draußen steht alles für dich bereit, du musst nur dranbleiben.«

      »Für mich ist es vorbei! Ich weiß, wenn ich fertig bin.«

      »Ich stehe kurz vor einem Treffen mit einer neuen Agentin, und du bist von Sylvia Plath inspiriert; mach was draus.«

      »Okay. Ich mache es wie Tabitha und wälze mich nur im Dreck. Wie wär’s denn damit?«

      »Das Thema Tabitha ist eine ganz andere Geschichte. Sie bringt dich irgendwann noch um.«

      »Du kannst sie einfach nur nicht leiden.«

      »Ich neige eben dazu, Menschen, die andere wie Dreck behandeln, nicht zu mögen.«

      »Das Leben hat eben nicht so funktioniert, wie sie es sich erhofft hatte. Herrgott noch mal, sie ist eine Tänzerin mit klassischer Ausbildung. Nachdem sie sich ihr Knie verletzt hatte, war alles von jetzt auf gleich vorbei – einfach so. Und jetzt ist es ihr Beruf, Kaffee einzuschenken. Was glaubst du denn, wie sie sich dabei fühlt?«

      »Ich mache mir aber um dich Sorgen.«

      »Bei mir ist es doch nicht anders. Ich bin einer von zig gescheiterten Schauspielern.«

      »Ihr