Das dreizehnte Problem
Überhaupt aber darf man die Frage aufwerfen, aus welchem Grunde man denn eigentlich sich nach etwas anderem neben den sinnlichen Dingen und denen, die zwischen Sinnlichem und Intelligiblem ein Mittleres bilden, umsehen muß, warum also z.B. nach Ideen, wie wir als Platoniker sie setzen. Geschieht es vielleicht deshalb, weil die mathematischen Gegenstände sich von den sinnlich irdischen Dingen zwar in anderer Beziehung unterscheiden, aber darin nicht unterscheiden, daß jede Art derselben (z.B. das Dreieck) in einer unbestimmten Anzahl von Exemplaren vorkommt? Die Prinzipien für dieselben existieren deshalb nicht in bestimmter Anzahl, und es ist damit ebenso wie mit den Buchstaben, den Prinzipien für unsere sinnlichen Sprachlaute; auch die kommen alle zusammen gleichfalls nicht in bestimmter Zahl vor, wohl aber sind sie nach bestimmten Arten unterschieden. Man darf dabei nur nicht an die Laute dieser einen Silbe oder Lautgruppe denken, wie sie dies eine Mal an dieser Stelle steht; denn da freilich wird auch die Zahl der Buchstaben eine bestimmte sein. Gerade so nun geht es auch bei jenem »Mittleren«, den mathematischen Objekten; denn auch hier befaßt jedesmal eine Gattung eine unbestimmte Anzahl von Exemplaren unter sich. Wenn es daher nicht neben den sinnlichen Dingen und jenen mittleren noch irgend ein anderes gibt von der Art, wie die Ideen im Sinne der platonischen Schule, so gibt es überall keine Wesenheit, die der Zahl und der Gattung nach einheitlich wäre, und auch die Prinzipien des Seienden würden dann nicht in bestimmter Anzahl, sondern nur in bestimmten Arten existieren. Ist nun dieses die notwendige Konsequenz, so ist man auch, um sie zu vermeiden, zur Annahme von Ideen gezwungen. Zugegeben auch, daß diejenigen, die diese Lehre aufgestellt haben, sie keineswegs klar genug zu begründen wissen, so ist es doch eben das Bezeichnete, was ihnen im Gedanken vorschwebt, und der Sinn, den sie mit ihrer Lehre verbinden, ist notgedrungen der, daß die Ideen jegliche eine Wesenheit für sich bilden und keine eine bloße Bestimmung an einem anderen darstellt. Aber allerdings, geben wir die Existenz der Ideen zu und lassen wir es gelten, daß die Prinzipien, jedes als numerisch eines, aber nicht als eine Art, nur einmal vorkommend existieren, so haben wir oben ausgeführt, welche Undenkbarkeiten sich aus einer solchen Annahme mit Notwendigkeit ergeben.
Das vierzehnte Problem
Eng verwandt mit diesen Fragen ist das fernere Problem, ob die Elemente bloß der Potentialität nach existieren oder in anderem Sinne, also der Aktualität nach. Existieren sie irgendwie in letzterer Weise, so gibt es etwas anderes, was für die Prinzipien das Vorausgegebene bildet. Denn das Wirkliche setzt das Mögliche als vorausgegeben voraus; dagegen ist es nicht notwendig, daß alles was möglich ist, auch in jenen Zustand der Aktualität übergehe. Andererseits, wenn die Elemente nur der Möglichkeit nach existieren, so bleibt es immer möglich, daß nichts sei von allem was ist. Denn möglich ist das Sein auch dessen, was noch nicht ist; was wird, das ist noch nicht. Dagegen wird nichts wirklich, dessen Sein nicht möglich ist.
Das fünfzehnte Problem
Dies sind die Schwierigkeiten, die man betreffs der Prinzipien ins Auge fassen muß; dazu kommt aber noch die weitere Frage, ob sie als Allgemeines existieren oder nach Art dessen, was man als Einzelwesen bezeichnet. Haben sie die Natur des Allgemeinen, so sind sie keine selbständigen Wesen; denn kein Allgemeines bezeichnet einen konkreten Gegenstand, sondern einen Artcharakter; selbständige Wesenheit aber heißt konkreter Gegenstand. Existiert aber das Prinzip als konkreter Gegenstand, und wird das was man als Allgemeines aussagt, als selbständig Seiendes aufgefaßt, so wird aus Sokrates eine Vielheit von Lebewesen: er wird erstens er selbst als Einzelperson, zweitens Mensch und drittens lebendes Wesen sein, falls nämlich jeder dieser Begriffe einen als Einheit für sich bestehenden Gegenstand bezeichnet. Das sind die Konsequenzen, wenn man die Prinzipien als Allgemeines faßt. Faßt man sie aber nicht als Allgemeines, sondern nach Art der Einzelwesen, dann sind sie wieder kein Gegenstand der Erkenntnis; denn alle Erkenntnis ist Erkenntnis des Allgemeinen. Es müßte dann also, wenn es doch eine Erkenntnis von ihnen geben soll, noch andere als Allgemeines von ihnen gültige Prinzipien geben, die noch ursprünglicher wären als die Prinzipien.
II. Teil.
Grundlegung
I. Wesen und Aufgabe der Grundwissenschaft
Es gibt eine Wissenschaft, die das Seiende als Seiendes und die demselben an und für sich zukommenden Bestimmungen betrachtet. Sie fällt mit keiner der sogenannten Spezialwissenschaften zusammen. Denn keine der letzteren handelt allgemein vom Seienden als solchem; sie sondern vielmehr ein bestimmtes Gebiet aus und betrachten dasjenige, was dem diesem Gebiet angehörenden Gegenstande zukommt. So macht es z.B. die Mathematik. Da wir nun die obersten Prinzipien und Gründe suchen, so sind diese offenbar als Gründe einer an und für sich bestehenden Wesenheit zu denken. Wenn nun diejenigen, die die Elemente dessen was ist erforscht haben, gleichfalls diese Prinzipien gesucht haben, so ergibt sich mit Notwendigkeit, daß auch die Elemente, die sie meinten, Elemente sind des Seienden nicht als dessen was an anderem ist, sondern was schlechthin ist, und daß deshalb auch wir die obersten Gründe des Seienden rein sofern es ist ins Auge zu fassen haben.
Vom Seienden spricht man in mehrfacher Bedeutung, indessen immer unter Beziehung auf einen einheitlichen Gesichtspunkt und eine einheitliche Wesenheit, also nicht bloß so, daß nur das Wort dasselbe wäre, sondern in der Weise, wie man etwa das Wort »gesund« gebraucht. Denn alles was man gesund nennt, hat irgendwie auf die Gesundheit Bezug; es ist solches, was die Gesundheit schützt, oder was sie wiederherstellt, oder auch was ein Kennzeichen der Gesundheit oder was für sie empfänglich ist. Und ebenso verhält sich das Wort »medizinisch« zur ärztlichen Kunst. Medizinisch heißt das eine Mal der, der die ärztliche Kunst besitzt, das andere Mal, wer dafür die Anlage besitzt, oder wiederum was zu den Aufgaben der ärztlichen Kunst gehört. Und in gleicher Weise wie diese werden wir auch andere Ausdrücke zu deuten haben. So spricht man denn auch vom Seienden wohl in mehrfacher Bedeutung, aber jedesmal in Beziehung auf einen und denselben prinzipiellen Gesichtspunkt.Wir nennen das eine Seiendes, weil es Substanz, das andere, weil es Bestimmung an der Substanz, das dritte, weil es auf dem Wege zur Substanz ist: Untergang, Privation, Qualität, Herstellungs- oder Erzeugungsursache der Substanz oder dessen, was nach seiner Beziehung auf die Substanz benannt wird, oder was sich zu einem der Genannten oder zur Substanz als Negation verhält. Sagen wir doch auch vom Nichtseienden, daß es ein Nichtseiendes sei.
Wie nun die Wissenschaft von allem was unter die Benennung »gesund« fällt, eine einheitliche Wissenschaft ist, so gilt das Gleiche auch auf anderem Gebiete. Denn als die Aufgabe einer einheitlichen Wissenschaft ist nicht nur das zu betrachten, was nach einem und demselben Begriff benannt wird, sondern auch das, was nach seiner Beziehung auf eine einheitliche Wesenheit zu verstehen ist. Denn auch dieses letztere steht in gewissem Sinne noch unter dem einheitlichen Gesichtspunkt. Augenscheinlich also ist es die Sache einer einheitlichen Wissenschaft, alles was Seiendes als solches ist zu betrachten. Überall aber ist die Wissenschaft im eigentlichen Sinne Wissenschaft von dem obersten Prinzip, wovon das übrige abhängt und wonach es benannt wird. Ist nun dies Oberste die reine Wesenheit, so wird es die Aufgabe des Philosophen sein, die Prinzipien und Ursachen der reinen Wesenheit zu erfassen.
Von jeglicher Gattung von Gegenständen ist die sinnliche Wahrnehmung eine einheitliche als von einem Objekt und die Wissenschaft ebenso. So z.B. betrachtet die eine Sprachwissenschaft die Gesamtheit der Sprachlaute. Und ebendeshalb ist es auch eine einheitliche Wissenschaft, die alle Arten des Seienden als Seienden ebenso wie die Gattung selber, und dann auch weiter die Arten der Arten zu betrachten hat.
Nun ist aber das Seiende und das Eine eines und dasselbe und macht eine einheitliche Wesenheit aus, sofern beide immer zusammen auftreten wie etwa Prinzip und Grund, aber doch nicht so, als fielen sie beide in einem einheitlichen Begriff zusammen. Freilich macht es auch nicht viel aus, wenn wir sie in letzterer Weise bestimmen; in mancher Beziehung könnte man es sogar als zweckdienlich bezeichnen. Denn ob ich sage: ein Mensch, oder: ein Mensch, welcher ist, oder bloß: Mensch, das ist dasselbe, und wenn man den