»Hier können die Leute Gott weiß was denken«, murmelte Teljanin, »aber wir müssen uns aussprechen!« Er griff nach der Mütze und ging nach einem kleinen leeren Zimmer.
»Ich weiß es und werde es beweisen«, sagte Rostow. In dem bleichen, erschrockenen Gesicht Teljanins zuckten alle Muskeln.
»Graf, stürzen Sie nicht einen jungen Menschen ins Verderben! Hier ist dieses Unglücksgeld, nehmen Sie es!« Er warf es auf den Tisch. »Ich habe einen alten Vater und eine Mutter!«
Rostow nahm das Geld und verließ, ohne ein Wort zu sagen, das Zimmer, aber vor der Tür blieb er stehen und wandte sich wieder um.
»Mein Gott«, sagte er, »wie konnten Sie das tun?« »Graf«, sagte Teljanin, auf den Junker zutretend.
»Rühren Sie mich nicht an!« rief Rostow zurücktretend. »Wenn Sie in Not sind, so nehmen Sie das Geld!« Er warf ihm den Beutel zu und stürzte aus dem Wirtshause hinaus.
27
Am Abend dieses Tages fand im Quartier Denissows eine lebhafte Besprechung der Offiziere der Schwadron statt.
»Ich sage Ihnen, Rostow, Sie müssen sich entschuldigen bei dem Regimentskommandeur«, sagte ein hochgewachsener Stabsrittmeister mit ergrauenden Haaren und mächtigem Schnurrbart zu Rostow, der dunkelrot vor Aufregung zuhörte. Stabsrittmeister Kirsten war zweimal wegen Ehrensachen zum Soldaten degradiert worden und hatte sich zweimal wieder aufgedient.
»Ich erlaube niemand zu sagen, ich habe gelogen!« rief Rostow. »Er hat mir gesagt, ich habe gelogen, und ich sagte ihm, er lüge selbst, und dabei bleibt es. Man kann mich in den Arrest setzen, entschuldigen werde ich mich nicht; denn wenn er als Regimentskommandeur es seiner nicht für würdig hält, mir Genugtuung zu geben, so …«
»Warten Sie, Väterchen, hören Sie mich an«, unterbrach ihn der Stabsrittmeister mit seinem tiefen Baß, indem er ruhig seinen langen Schnurrbart strich. »Sie haben in Gegenwart anderer Offiziere zum Regimentskommandeur gesagt, ein Offizier habe gestohlen!«
»Es ist nicht meine Schuld, daß das Gespräch in Gegenwart anderer Offiziere stattfand. Vielleicht hätte ich damals nicht sprechen sollen, aber ich bin kein Diplomat! Ich bin darum unter die Husaren gegangen, weil ich dachte, hier seien keine Winkelzüge nötig.«
»Das ist ganz schön, niemand glaubt, daß Sie ein Feigling seien, aber darum handelt es sich nicht. Fragen Sie Denissow! Ist das erhört, daß ein Junker Genugtuung von seinem Oberst verlangt?«
Denissow hörte mit finsterer Miene zu, augenscheinlich wollte er sich nicht einmischen. Auf die Frage des Stabsrittmeisters schüttelte er den Kopf.
»Sie müssen sich jedenfalls entschuldigen!«
»Auf keinen Fall!« rief Rostow.
»Das hätte ich von Ihnen nicht erwartet«, sagte ernst und streng der Stabsrittmeister. »Sie wollen sich nicht entschuldigen, obgleich Sie nicht nur ihm gegenüber, sondern dem ganzen Regiment und uns allen gegenüber sich vergangen haben! Was soll der Regimentskommandeur nun tun? Soll er einen Offizier vor Gericht stellen und das ganze Regiment dadurch beschimpfen – wegen eines einzigen Nichtswürdigen das ganze Regiment entehren? Ist das etwa Ihre Ansicht? Unsere Ansicht ist es nicht, und der Oberst hat richtig gehandelt, als er Ihnen sagte, Sie reden die Unwahrheit! Sie sind selber schuld, und nun wollen Sie aus Laune sich nicht entschuldigen, wollen alles erzählen! Es ist Ihnen gleichgültig, ob das ganze Regiment dadurch beschimpft wird!« Die Stimme des Stabsrittmeisters fing an zu zittern. »Sie denken wohl, Väterchen, Sie werden bald Generaladjutant werden, und dann mag das Regiment der Teufel holen! Uns ist es aber nicht gleichgültig, nicht wahr, Denissow?«
Denissow schwieg hartnäckig und richtete seine glänzenden schwarzen Augen zuweilen auf Rostow.
»Uns Alten ist die Ehre des Regiments teuer, und der Oberst weiß das, ach, wie teuer, Väterchen! Aber das ist nicht hübsch, das ist nicht schön, was Sie tun, Sie mögen es mir übelnehmen oder nicht, ich sage immer die Wahrheit, das ist nicht schön!«
Der Rittmeister stand auf und wandte sich ab.
»Zum Teufel, das ist wahr!« rief Denissow. »Nun, Rostow, nun?« Rostow sah bald erbleichend, bald errötend von einem zum anderen.
»Nein meine Herren, nein … glauben Sie nicht … ich verstehe sehr wohl … für die Ehre des Regiments … nun, einerlei, ich will schuld sein!« Tränen standen in seinen Augen. »Ich bin der Schuldige! Nun, was wollt ihr noch?«
»So ist’s recht, Graf«, rief der Stabsrittmeister sich umwendend und klopfte ihm mit seiner großen Hand auf die Schulter.
»Ich sage dir«, rief Denissow, »er ist ein prächtiger Junge!«
»So ist’s besser, Graf«, wiederholte der Stabsrittmeister, »gehen Sie hin und entschuldigen Sie sich, Erlaucht! Nun ja!«
»Meine Herren, ich will alles tun, kein Mensch wird ein Wort von mir hören«, sagte Rostow mit flehender Stimme, »aber entschuldigen kann ich mich nicht, wirklich nicht. Wenn ich mich entschuldige, so bin ich wie ein kleiner Junge, der um Verzeihung bittet.«
»Um so schlimmer für Sie«, sagte Kirsten. »Der Oberst ist rachsüchtig, Sie werden Ihren Eigensinn büßen.«
»Das ist kein Eigensinn. Ich kann nicht beschreiben, was für ein Gefühl es ist, aber ich kann nicht.«
»Nun, wie Sie wollen«, sagte der Stabsrittmeister. »Nun, und wo ist der Halunke hingekommen?« fragte er Denissow.
»Er hat sich krank gemeldet, morgen wird er durch Tagesbefehl entlassen«, sagte Denissow.
»Er muß krank sein«, bemerkte der Stabsrittmeister, »anders kann man es nicht erklären.«
»Krank oder nicht krank, er soll mir nicht unter die Augen kommen, oder ich erwürge ihn!« rief Denissow blutgierig.
Der Regimentsadjutant trat ins Zimmer.
»Wie geht’s«, begrüßten ihn die Offiziere.
»Es geht los, meine Herren! Mack hat sich mit seiner ganzen Armee gefangengegeben!«
»Du lügst!«
»Ich habe ihn selbst gesehen.«
»Was, du hast den lebendigen Mack gesehen mit Händen und Füßen?«
»Der Feldzug beginnt! Gebt ihm eine Flasche für diese Neuigkeit!«
»Es geht los, meine Herren, zu morgen ist der Aufbruch befohlen!«
»Nun, Gott sei Dank, wir haben lange genug gesessen.«
28
Kutusow zog sich nach Wien zurück und brach hinter sich die Brücken über den Inn und die Traun ab. Am 28. Oktober überschritten die Russen die Enns. Die langen Wagenzüge, die Artillerie, die Kolonnen zogen sich um Mittag durch die Stadt Enns diesseits und jenseits der Brücke. Es war ein warmer und regnerischer Herbsttag. Von der Anhöhe, auf der die russischen Batterien standen, welche die Brücke verteidigten, öffnete sich eine weite Aussicht. Man sah die Stadt vor sich mit ihren weißen Häusern und roten Dächern, mit der Kirche und der Brücke. In der Ferne erblickte man ein Schloß an der Mündung der Enns in die Donau; man sah auch die Türme eines Klosters und weiterhin jenseits der Enns erschienen die Vorposten des Feindes. Zwischen den Geschützen auf der Anhöhe stand der die Nachhut führende General mit seiner Suite und betrachtete die Örtlichkeit durch ein Fernrohr. Etwas zur Seite saß Neswizki, welcher von dem Oberkommandierenden zur Nachhut gesandt worden war. Der Kosak, der ihn begleitete,