So schlüssig sich eine solche Erklärung darlegen lässt, so läuft sie doch Gefahr, das Kreuzzugsgeschehen in nicht unerheblicher Weise zu verklären. Wir haben oben die Verbindungen des theologischen Milieus, das die Reformdynamik trug, mit dem Milieu der Ritter betont, die die Kriegszüge durchführten. Dennoch ist es in diesem Fall auch nötig, darauf hinzuweisen, dass die Kreuzzüge ein eminent praktisches Unternehmen waren. Das nächste Kapitel wird den Aufruf Urbans II. zum ersten Kreuzzug behandeln. Darin ist weniger von edlen Taten und mehr von roher Gewalt die Rede, die sich auf andere Ziele richten müsse. Jedem bedeutenden Begriff der theologischen Hochsprache, der die zeitgenössische Diskussion bestimmte, entsprach im praktischen Milieu ein sehr viel unbestimmteres Verständnis, das einer robusten Exegese unterzogen wurde. Das Christentum des Mittelalters war eine robuste Religion. Und doch gibt die Diskussion über den Sündennachlass den entscheidenden Hinweis. Die Frage der Buße konnte nur in einem Umfeld Gewicht bekommen und Menschen mobilisieren, das sich über sein Seelenheil ernsthafte Sorgen machte. Diese Sorge um das Seelenheil war eine bedeutende Triebkraft der Kirchenreform des elften Jahrhunderts, wobei man die Antworten nicht nur in geistlichen Lebenssphären finden konnte. Der Kreuzzug bot die Möglichkeit, Kampf und religiöse Haltung miteinander zu verbinden. Die Erwartung, dass beim Sieg in diesem Kampf dem Sieger auch die Beute zufiele, war dabei selbstverständlich und stellte die Motive des Kämpfenden auch nicht infrage.
Die Verbindung eines Sündennachlasses mit dem Kampf im Namen der Kirche und des Glaubens kam in diesen Jahren auch an anderen Orten vor. So kämpften die Christen auf der iberischen Halbinsel seit einigen Jahren erfolgreich gegen die moslemischen Herren. Im Jahre 1085 war es gelungen, Toledo zu übernehmen, einige Jahre später rief Urban II. – wie bereits erwähnt – die katholischen Kämpfer auf, Tarragona zurück zu erobern. Auch für diesen Kampf wurde ein Sündenablass in Aussicht gestellt. So lässt sich die Aufbruchstimmung des ersten Kreuzzugs aus der wirtschaftlichen, sozialen und religiösen Bewegung verstehen, die das Abendland in der zweiten Hälfte des elften Jahrhunderts ergriffen hatte. Die religiöse Unruhe hatte mit einer besonderen Ausrichtung auf Jerusalem dem künftigen Ziel des Kreuzzugs in den Augen der Zeitgenossen bereits eine besondere Aura verliehen. Dabei hatte sich ein besonderes frommes Interesse an Jerusalem als Pilgerziel gezeigt. Im Jahr 1064 war ein großer Pilgerzug aus dem Reich aufgebrochen, und über Ungarn, Byzanz und Syrien in das Heilige Land gezogen: Erzbischof Siegfried von Mainz, die Bischöfe Gunther von Bamberg, Otto von Regensburg, Wilhelm von Utrecht und viele andere, Säulen und Häupter Galliens, brachen im Herbst nach Jerusalem auf (Lampert von Hersfeld, Annalen zum Jahr 1064). Die Pilger hatten staunenswerte Abenteuer erlebt, waren überfallen worden und hatten sich nach anfänglichen Bedenken (Die meisten Christen hielten es nicht für vereinbar mit ihrem Glauben, sich mit der Faust zu wehren und ihr Leben, das sie zu Beginn der Pilgerfahrt Gott geweiht hatten, mit irdischen Waffen zu schützen, Lampert von Hersfeld, Annalen zum Jahr 1065) handfest und schließlich erfolgreich zur Wehr gesetzt.
Das gesteigerte Interesse für das tatsächliche Jerusalem mochte sich in den Ohren mancher Zeitgenossen mit der besonderen Rolle verbinden, die mancher Exeget jener Tage dem himmlischen Jerusalem in seinen Schriften und Worten einräumte. Die Frage, ob Jerusalem von Anfang an als Ziel des Kreuzzugs vorgesehen war, ist verschiedentlich diskutiert worden. Für das Verständnis der zeitgenössischen Stimmung ist es wichtiger, dass Jerusalem alsbald zum Ziel erklärt wurde. Darin können wir einen weiteren Hinweis auf den besonderen Anteil der religiösen Dynamik dieser Jahrzehnte am Aufbruch zum ersten Kreuzzug erkennen.
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