Angesichts der so schwachen Reformstrukturen und angesichts der Beharrungskräfte, die eine jahrhunderte lange Tradition, die auch für den Klerus selbstverständlich war, ihren Bemühungen entgegensetzte, konnte die Reform der Kirche nur gelingen, wenn sie von einer ausreichend großen und engagierten Zahl von Laien unterstützt wurde. Tatsächlich hat die historische Forschung zu der Erkenntnis geführt, dass die Sorge um das Seelenheil und der Wunsch, ein gottgefälliges Leben zu führen, in den unterschiedlichen Schichten der Christenheit dieser Zeit eine starke Kraft war. Die Reformer konnten auf diese Unterstützung setzen. Die religiöse Unruhe drückte sich in verschiedenen Formen aus, es ist angesichts der regionalen Beschaffenheit der meisten Lebensstrukturen nicht verwunderlich, wenn die Menschen auf die bohrende Frage nach dem richtigen Leben unterschiedliche Antworten gaben. Eine besonders aktive Rolle spielte der Adel.
In einer Lebenswelt, in der das städtische Leben noch keine prägende Rolle spielte, waren neben den Bischöfen – die in Städten residierten – vor allem Klöster Träger christlicher Kultur. Viele dieser Klöster waren von Adelsfamilien gestiftet worden, die auf diese Weise das Totengedenken ihrer Dynastie sicherstellen wollten. Doch es gab auch enge persönliche Bande, da die jüngeren Söhne solcher adligen Familien häufig in diese Klöster eintraten. So waren diese Familien eng mit ihren Klöstern verbunden, und sie machten sich die Reform des klösterlichen Lebens zu einer eigenen Aufgabe. Gleichzeitig war dies die Schicht, aus der die Kreuzzugsheere rekrutiert wurden. Die enge Verbundenheit dieser Milieus lässt sich etwa bei Bernhard von Clairvaux erkennen, der aus einer solchen ritterlichen Familie stammte und 14 Jahre nach der Eroberung Jerusalems in den neu gegründeten Zisterzienserorden eintrat.
Die Zisterzienser waren damals ein junger, asketischer Orden, der die adlige Jugend faszinierte. Es war ein strenges, sehr entbehrungsreiches und häufig kurzes Leben, zu dem diese adlige Jugend sich entschloss. Der Zisterzienserorden gehört zu den eindrucksvollsten Neuerungen, die aus der Reformbewegung des 11. Jahrhunderts hervorgegangen waren. Die Brüder der jungen Männer, die in diese Klöster eintraten, mochten einem Aufruf zum Kreuzzug folgen. Bernhard wurde selber zum entschiedensten Prediger und Propagandisten des zweiten Kreuzzugs. Otto von Freising, dem wir das vielleicht eindrucksvollste Lob der zisterziensischen Lebensweise verdanken, nahm selber an diesem zweiten Kreuzzug teil. Otto von Freising und Bernhard von Clairvaux waren Männer des Wortes. Sie vermochten Inhalte und Begriffe differenziert zu verstehen und wiederzugeben. Aber wir können davon ausgehen, dass die Reformideale, die diese Männer bewegten, auch eine schlichtere Ausdrucksform kannten. Reformen benötigen klare Losungen, und nicht jeder, der diese Losungen mit Inbrunst vorträgt, versteht ihren Gehalt. Damit kommen wir zu der aggressiven Seite der Reform, die sich als Antwort auf den Kreuzzugsaufruf Urbans II. 1095 so vehement äußerte.
DIE AGGRESSIVEN ZÜGE DER REFORM
Die Reform hatte große Gegner nicht gescheut. Die Reformer hatten frühzeitig begonnen, deutliche Trennlinien zu ziehen. Daraus war bereits 1054 das so genannte morgenländische Schisma hervorgegangen, ein formaler Akt der gegenseitigen Exkommunikation vom Papst und dem griechischen Patriarchen in Konstantinopel. Die unterschiedlichen Sprachen hatten schon deutlich früher zu einer Entfremdung geführt, die durch divergente theologische Lehren und politische Strukturen verstärkt wurde. Doch konnten diese, zu einem Teil auch persönlichen Auseinandersetzungen immer wieder beigelegt werden. Schon bald, nachdem die Reformer in Rom die Initiative übernommen hatten, änderte sich das. Es kam zu Konfrontationen und gegenseitigen Exkommunikationen, aber erst der vierte Kreuzzug, von dem unten noch die Rede sein wird, entfremdete beide Lager auf Dauer. Zunächst wirkte die gemeinsame Tradition weiter. Der Aufruf zum ersten Kreuzzug lässt dies erkennen. Schließlich ging er auf eine Hilfsanfrage aus Byzanz zurück. Aber das Schisma markiert doch eine erste Grenzziehung. Und aus solchen Grenzziehungen, die die Reformer nun vorantrieben, ergaben sich allmählich neue Gegnerschaften. Gegnerschaften, die darauf zurückzuführen waren, dass die nun deutlicher voneinander getrennten Größen begannen, um ihr Verhältnis zueinander zu ringen.
Der Konflikt Gregors VII. mit Heinrich IV., der schließlich in Canossa im Januar 1077 einen berühmten Höhepunkt erfuhr, ist dafür ein berühmtes Beispiel. Auch er spitzte sich allmählich zu, aber er ließ in der Zuspitzung die Konsequenzen des Reformprogramms erkennen, das sich mit versöhnlichen Tönen gegenüber jenen schwertat, die vom rechten Weg abwichen. Gregor VII. ging immerhin soweit, dem Königtum Heinrichs IV. durch seine Exkommunikation die Legitimität zu entziehen und damit einer Opposition in Deutschland Auftrieb zu geben, die schließlich einen eigenen König wählte. Das war durchaus ein unerhörter Vorgang, denn Heinrichs Vater hatte in Rom noch mehrere Päpste ab- und eingesetzt.
Schließlich ging der Angriff Gregors VII. und der Reformer auf Heinrich IV. deutlich über die Person des unbeliebten Königs hinaus. Er zielte auf das Selbstverständnis dieses Königtums, das die eigene Aufgabe auch als ein sakrales Amt verstand. Der König war der Kopf seines christlichen Königreiches, verantwortlich für Laien und Kleriker gleichermaßen. Diese vornehme Aufgabe war ihm von Gott übertragen worden. Für die Reformer war der König nur noch ein Laie, Angehöriger eines Standes, dessen Würde der Würde der Priester nicht gleichkam. Fünfzig Jahre zuvor, bei der Krönung Konrads II. im Jahre 1024, hatte der Erzbischof von Mainz den König daran erinnert: ein Stellvertreter Christi bist Du. Diese vornehme Stellung, die für die Könige des frühen Mittelalters selbstverständlich gewesen war, wurde nun mit Entschiedenheit in Frage gestellt.
Der Vorstoß des neuen Papsttums an die Spitze der kirchlichen Hierarchie, bzw. der Ausbau dieser Hierarchie unter päpstlicher Führung, richtete sich indes nicht nur gegen die Könige, die bislang die wichtigen Prälaten in ihren Reichen selber ausgesucht hatten. Die Hierarchisierung der Kirche stellte auch den Status der Bischöfe Europas in Frage. Sie hatten sich bislang als direkte Nachfolger der Apostel verstanden, die ihr Amt nicht päpstlicher Verleihung sondern einem göttlichen Auftrag verdankten (auch wenn sie vom König eingesetzt wurden). Der Nachdruck, mit dem der Bischof in Rom nun seine übergeordnete Stellung betonte und Gehorsam einforderte, beunruhigte viele Amtsträger. Manche akzeptierten die neue Führung, viele aber nahmen daran Anstoß. So ist es etwa zu erklären, dass viele Bischöfe des Reiches Heinrich IV. in seinem Kampf mit dem Papsttum zunächst unterstützten. Tatsächlich war die Kirche des frühen Mittelalters regional organisiert. Es gab vereinzelte zentralisierende Elemente, aber sie waren angesichts der Kommunikationsbedingungen schwach entwickelt. Bischöfe residierten in Städten und in der Regel waren sie die Herren der Stadt mit einem weiten Wirkungskreis. Innerhalb ihres Bistums hatten sie die Entscheidungsgewalt über den Klerus und das geistliche Leben.
Es lässt sich in Hinblick auf diese regionale Struktur der frühmittelalterlichen Kirche sagen, dass eine Bewegung von dezidiert christlichem Charakter, die gewissermaßen quer zu den Bistumsgrenzen die Menschen erfasste, und die sich nicht mehr auf die Zuständigkeit eines Bischofs beschränkte, die Autorität der römischen Kirchenleitung stärken konnte. Zumindest stärkte eine solche Bewegung die Zuständigkeit des Papstes, der bis dahin vor allem mit den Belangen seiner eigenen römischen Diözese zu tun hatte. Insofern waren die Kreuzzüge ein weiteres Moment einer Veränderung der mittelalterlichen Kirche, die ihre regionalen Horizonte zu einem gemeinsamen Horizont der lateinischen Christenheit erweiterte. Die Führung dieser Kirche wurde zunehmend vom Papsttum beansprucht, und sie wurde den Päpsten von den Zeitgenossen auch zunehmend zugestanden. Das hatte damit zu tun, dass der Bedarf nach einer solchen zentralen Führung wuchs. Bewegungen, wie die Kreuzzüge, die den größeren regionalen Rahmen überschritten, trugen dazu bei.
Es ist wohl kein Zufall, dass das 12. Jahrhundert nicht nur eine besondere Zeit in der Kreuzzugsgeschichte war, sondern auch als die Zeit gelten kann, in der das Papsttum die Führung der Kirche nicht nur beanspruchte, sondern diesen Anspruch auch mit überzeugenden Persönlichkeiten ausfüllen konnte. Diese Entwicklungen hängen nicht voneinander ab, sondern sie gehen vielmehr auf eine Horizonterweiterung zurück, die sich in vielen Formen äußerte.
Die Verbindung