»Du siehst fantastisch aus«, flüsterte er. Wie ein Hauch kam es bei ihr an. »Es passt wie angegossen.«
Sie wollte erst etwas sagen, sich mit ihm freuen, aber es war ihr nicht möglich, genug Luft einzuatmen. Und trotzdem genoss sie dieses Gefühl. Das war es, was auch sie erregte. Sie wusste, dass sie es nicht lang genießen würde können. Zu wenig ließ ihr der Griff um ihren Körper. Aber dieses Mal wollte sie es bis zum letzten Moment durchhalten. Es auskosten. Für ihn. Und auch für sich.
Er trat zu ihr, umarmte sie. Fühlte mit den Händen über ihren Rücken, ihre Taille. Über die Seiten. »Du hast die perfekte Figur dafür, weißt du das?«
Natürlich wusste sie es. Wie oft hatte sie sich früher selbst zu schnüren versucht. Nie war es annähernd so, wie er es jetzt getan hatte. Sie atmete flach. Es wurde immer schwieriger.
»Kannst du noch?«
Lia nickte leicht. Aber es war gelogen. Das wusste sie. Nur noch einen Moment. Dieses Gefühl. Atemberaubend.
Dann wurde es schwarz um sie und sie rutschte in seine Arme und auf den Boden. Fiel wie ein welkes Blatt, aber beschützt. Sie wusste, dass er sie befreien konnte. Und dass er es tun würde. Sie hatte Vertrauen zu ihm. Sonst wäre sie niemals hergekommen.
»Atme wieder«, sagt Herr Conrad leise.
Es ist still in der Werkstatt. Die Kerze auf dem Tisch knistert kurz, als wolle sie darauf aufmerksam machen, dass ihr nicht mehr viel Zeit bleibt. Sarah hält noch immer ihre Tasse mit beiden Händen. Kalt ist ihr aber nicht mehr. Sie sieht vor sich Lia stehen, ihre Silhouette wie eine Sanduhr, in der Mitte bezwungen. Immer wieder sieht sie Lia sanft zu Boden gleiten, als die Erregung alle Luft aufgebraucht hat.
»Atme wieder.«
Sarah schrickt auf. Schaut zu dem Mann auf der anderen Seite des Tisches, der zurückgelehnt in seinem Thron sitzt und sie mit zusammengekniffenen Augen mustert.
»Ist alles in Ordnung, Kindchen?«
Sarah räuspert sich. Nimmt einen Schluck Rooibostee, um Zeit zu gewinnen, und schiebt dann ihre Tasse langsam auf die Tischkante. Ist es in Ordnung, dass sie es sich in Strümpfen auf einem alten Sofa in einer Werkstatt bequem gemacht hat, die sie erst gestern entdeckte? Ist es in Ordnung, dass sie sich von einem alten, fremden Mann mit Nickelbrille einen Tee und eine Geschichte servieren lässt? Dass sie derart beeindruckt beinahe die Welt um sich vergisst? Sarah weiß nicht, ob man das als in Ordnung bezeichnen kann. Plötzlich ist ihr die Geschichte unangenehm, zu intensiv, zu nah. Aufdringlich. Es fühlt sich an, als hätte Herr Conrad sie bewusst gewählt. Erzählt man sich solche Handlungen, wenn man sich nicht näher kennt?
Sarah schwingt ihre Füße auf den Boden und stützt sich mit den Händen am alten Polster des Sofas ab. Das Sofa knarrt dabei ein wenig.
»Oh nein«, meint Herr Conrad und schüttelt langsam den Kopf. »Deine Schuhe sind ganz sicher noch nicht trocken.«
»Vielleicht doch?«, sagt Sarah und erhebt sich. Sie weiß, dass Herr Conrad keine Bemühungen zeigen wird, für sie nachzusehen. Warum auch immer. Sie holt kurz tief Luft, denn beim Aufstehen ist ihr ein wenig schwindlig geworden. Zu schnell, zu hastig. Lia, denkt sie. So muss es sich angefühlt haben, als ihr die Luft ausging. Als das Korsett ein Einatmen verweigerte und plötzlich nichts mehr nachgab. Sarah legt in Gedanken ihre Hände in die Taille. Lässt ihre Handflächen von dort auf die Bauchdecke gleiten, übt ein wenig Druck aus und atmet dagegen an. Plötzlich wird ihr bewusst, was sie tut. Sie schaut erschrocken zu Herrn Conrad. Der lehnt im Polster des Sessels und beobachtet sie mit einem genussvollen Lächeln auf seinem Gesicht. Unverfänglich lächelt Sarah zurück und tut so, als habe sie sich nur recken wollen.
»Schau schon nach«, sagt der alte Mann zufrieden. Mit dem Kopf nickt er in die Richtung der Werkbank. Dort, wo die Stiefeletten stehen.
Sarah geht vorsichtig über das ergraute Parkett. Tritt nur leicht mit dem vorderen Teil des Fußes auf, bis sie an der Werkbank ist. Sie greift sich einen ihrer Schuhe, zieht das geknüllte Zeitungspapier ein wenig heraus. Es ist feucht. Das Wildleder aber auch. Sarah überlegt. Sie könnte behaupten, die Stiefeletten seien innen bereits trocken. Wenn sie gleich hier die Füße in die Schuhe schieben würde, könnte er es kaum prüfen. Würde er das überhaupt? Sie ist nicht sicher.
»Nimm das Papier ganz heraus und knülle neues. Es ist genug da.«
Sarah dreht sich um. Lehnt sich gegen die Werkbank. Ihr ist noch immer ein wenig schwindlig vom schnellen Aufstehen. Sie fühlt sich einen Moment wie Lia, die gegen dieses Gefühl ankämpft. Spinnt den Gedanken weiter, wie sich das Wissen anfühlen muss, dass es noch nicht das Ende ist. Bis zum Schluss, hatte ihr der Mann ins Ohr geflüstert, bis zum Schluss hatte Lia dagegen gekämpft. Und dann?
»Was geschah dann?«, fragt Sarah.
Mit einer langsamen Bewegung dreht sich Herr Conrad in seinem Sessel zu ihr. Sein Hemd und seine Weste verrutschen dabei und werfen eine große Falte, aber das stört ihn nicht. »Dann? Was meinst du, Kindchen?«
»Was geschah, als Lia fiel?« Sarah verschränkt die Arme vor ihrem Körper wie ein trotziges Kind, das nach einem erzählten Märchen auf den Sieg des Guten pocht. »Hat er ihr geholfen?«
Herr Conrad sieht Sarah an, als sei er überrascht. Oder enttäuscht. »Diese Frage habe ich nicht erwartet«, sagt er mit seufzender Stimme. »Überhaupt nicht.« Mit einer Hand greift er in seine linke Seitentasche, wühlt darin gemächlich wie in einer Schatztruhe und zieht aus ihr schließlich einen kleinen Beutel aus braunem Leder sowie eine handgroße, geschwungene Tabakpfeife. Sorgsam legt er die Pfeife auf den Tisch vor sich und öffnet vorsichtig den Beutel.
»Keine Antwort?«, hakt Sarah nach. Sie bemerkt, dass es fordernd klingt, überlegt kurz, ob es vielleicht unangemessen ist, findet es aber nicht beunruhigend.
Herr Conrad entnimmt dem Beutel eine Kugel aus geschnittenem Tabak und prüft sie zwischen Daumen und Zeigefinger auf Feuchtigkeit. Dann schließt er den kleinen Beutel wieder schiebt ihn behutsam in seine Westentasche zurück. »Natürlich, Kindchen. Selbstverständlich hat er ihr geholfen.«
Sarah glaubt, dass es nur eine Redewendung ist. Diese Antwort hört sie von Herrn Conrad nicht zum ersten Mal. »Selbstverständlich?« Sie legt den Kopf schräg. »Wie konnte Lia wissen, dass er das tut?«
Herr Conrad ergreift die auf dem Tisch liegende Pfeife und beginnt, sie zu stopfen. Vorsichtig schiebt er die unterschiedlich lang geschnittenen Tabakfasern in den Pfeifenkopf und drückt sie leicht an. »Vertrauen«, sagt er, während er mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand nachstopft. Dabei nickt er bedächtig mit dem Kopf. »Blindes Vertrauen, Kindchen.«
Sarah bläst hörbar Luft aus, als sei ihr die Erklärung zu banal. Sie weiß nicht, wem sie selbst ein so großes Vertrauen entgegen bringen würde. Jedenfalls nicht ohne Unwohlsein.
»Wenn deine Schuhe noch nicht trocken sind«, sagt Herr Conrad, »wüsste ich eine Geschichte dazu.« Er betrachtet ausgiebig den Pfeifenkopf, als wäre es ihm völlig gleich, ob Sarah sofort, im Laufe des Tages oder überhaupt in diesem Jahrhundert antwortet. Dann nimmt er das Mundstück zwischen die Lippen und prüft, ob er richtig gestopft hat.
Sarah überlegt, ob es eine Niederlage ist, wenn sie eingesteht, dass ihre Schuhe nicht trocken sind. Dass sich das Wildleder noch nass und seifig anfühlt. Und dass sie tatsächlich Interesse an einer weiteren Geschichte hat. »Gut«, sagt sie nach einer Weile, stützt sich mit den Händen auf der Werkbank ab und schiebt ihren Hintern auf den Rand der Arbeitsplatte. Ihre Füße schweben wenige Zentimeter über dem Parkett. »Dann noch eine Geschichte.«