Unverglüht. Jona Mondlicht. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jona Mondlicht
Издательство: Bookwire
Серия: Unverglüht
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783945163054
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Im Vorübergehen, denn eigentlich war sie auf der Suche nach einem Weihnachtsgeschenk. In noch keinem Jahr hat sie es gemocht, Geschenke zu Anlässen zu finden. Sie findet lieber die Anlässe zum Schenken. Spontane Überraschungen und kleine Aufmerksamkeiten, ganz so, wie es ihr in den Sinn kommt. So suchten ihre Augen nach einer Idee, nach einer Inspiration für das, was sie später in Geschenkpapier hüllen könnte. Und ihr Blick begegnete diesem rostigen Schild. Sarah konnte nicht einmal sagen, ob es schon immer dort befestigt war, denn sie hatte es noch nie zuvor wahrgenommen.

       Lederwaren Manufaktur, Inhaber C. B. Conrad.

      Einen Moment blieb sie verwundert stehen, sah durch die Toreinfahrt, neugierig den Kopf gereckt. Sah Mauer, Fahrrad, Mülltonnen. Ihr fiel ein, dass sie sich einen Gürtel zu Weihnachten schenken könnte, ein immerhin besseres Geschenk als Socken. Nicht wesentlich kreativer, aber etwas, das sie wirklich gebrauchen konnte. Kurz entschlossen wagte sie sich in den schmalen Gang hinein, durchquerte die Einfahrt. Sie fand einen Hinterhof, eingequetscht von einer grauen Hauswand, an der alte Kabel herunterhingen, und einer unansehnlichen, hohen und nassen Mauer. An einer Seite des Innenhofes entdeckte sie eine Holztür, und wenn es dort eine Manufaktur geben sollte, musste das deren Eingang sein.

      Vorsichtig legte Sarah die Hand auf die kalte Metallklinke. Schwarz, geschwungen und abgegriffen. Sie hatte damit gerechnet, dass die Tür verschlossen sein könnte oder lediglich in ein Treppenhaus führen würde. Wer weiß, vielleicht gab es diese Manufaktur gar nicht mehr oder längst an einem ganz anderen Ort. Wahrscheinlich war dieser Gedanke der Grund, aus dem sie die Klinke schließlich doch mutig und kräftig nach unten drückte.

      Die Tür sprang regelrecht nach vorn. Sarah war überrascht. Wärme strömte ihr entgegen wie eine Blase, hüllte sie ein und zog sie in den Raum. Aber nicht nur das. Mit der Wärme ergriff sie auch ein Geruch, der ihr durch die Nase direkt unter die Haut kroch. Leder. Ein würziger, fettiger Duft geschnittenen Leders. Mit einem Hauch Cognac. Sie sog die Luft ein. Es gab diese Manufaktur. Hier. Unüberriechbar.

      Sarah trat leise in den Raum. Obwohl sie vorsichtig die Tür hinter sich zuzog, gab diese ein seufzendes, quietschendes Geräusch von sich. Wem immer dieser Laden gehörte, er brauchte keine Glöckchen, die über der Tür befestigt auf Kunden aufmerksam machen. Sarah stand am Anfang eines schwach beleuchteten Flures, dessen Wände von oben bis unten mit Gürteln, Riemen und Schnüren verhängt waren. Es schien, als seien die obersten Haken direkt an der Decke befestigt, was den Raum kleiner und drückender erscheinen ließ. Von der anderen Seite des Flures legte sich ein sanftes, gelbes Licht über den grauen, abgeschliffenen Parkettfußboden. Viel zu dunkel, als dass man dort hätte arbeiten können. Als sich Sarah von der Tür löste, berührte sie einen der Ledergürtel, der gleich neben ihr hing. Festes, schwarzes Leder. An den Seiten sorgfältig mit einem roten Faden genäht. Zweireihig gestanzte Lochreihen. Sie legte ihn über ihre Handinnenfläche, zog ihn ein wenig hin und her. Sie erinnerte sich an den Tag, an dem sie zum ersten Mal bemerkt hatte, wie aufregend Leder auf sie wirkte.

      Das war im letzten Sommer. Nicht lange her. Sarah und ihr damaliger Freund waren in den Urlaub gefahren, sehr spontan, sehr individuell. Eine ihrer Übernachtungen hatte sie auf einen alten Bauernhof geführt, spartanisch eingerichtet, aber gastfreundlich. Sarah hatte an einem Haken im Stall Gurte und Zaumzeug entdeckt und über die Länge der Lederriemen gescherzt. »Die kannst du dreimal um mich wickeln«, hatte sie gesagt, und ihr Freund hatte sie beim Wort genommen. Noch am gleichen Abend. Als sie mit gebundenen Händen vor ihm lag und dabei nicht nur seine Lust bemerkte, war etwas geschehen in ihr. Das Leder hatte nicht nur auf ihrer Haut Spuren hinterlassen.

      »Hallo?« Eine tiefe Stimme knarzte durch den Flur.

      Sarah hatte in Gedanken den Ledergürtel um ein Handgelenk gelegt und erschrak. Am Ende des Flures war ein weißhaariger, älterer Mann aufgetaucht, dem sie höchstens bis zu den Schultern reichte. Eine kleine, runde Brille saß auf einer recht dicken Nase und ließ den Mann ein wenig verkniffen aussehen. Vielleicht war er es auch.

      »Kann ich dir helfen?«

      Sarah ließ den Gürtel aus ihrer Hand gleiten. »Danke, ich schaue nur mal.« Sie versuchte ein Lächeln, zog kurz den Kopf zwischen die Schultern.

      »Nach was?«, rief der Mann von der anderen Seite des Flures interessiert und schob seine Brille ein wenig nach oben.

      Sarah räusperte sich. »Nach einem Gürtel.« Sie sah die lederbehangenen Wände auf und ab, als sei das der Beweis. Ihre Antwort konnte keine unerwartete sein. Nichts anderes konnte man hier suchen. Unerwartet, dachte Sarah, war daher eher die Frage des Mannes.

      »Für die Hand, Kindchen?« Der Mann schien nicht nachgeben zu wollen.

      Sarah sah ihn irritiert an. Kindchen? Sie war knapp über dreißig, sah ganz sicher nicht wie ein Kindchen aus und wenn dieses Wort gerechtfertigt war, dann nur, wenn der Mann noch älter war, als er aussah. »Bitte? Für die Hand?«

      »Für die Hand«, wiederholte der Mann von der anderen Seite des Flures. »Du hast eben einen Gürtel um dein Handgelenk gewickelt.« Der Mann räusperte sich. »Trägt man das jetzt so?«

      Für einen Moment fühlte sich Sarah ihrer Gedanken beraubt, ertappt, dann fing sie sich wieder. Atmete tief aus. »Entschuldigen Sie. Ich wollte nicht stören.« Sie zog sich die Handtasche zurecht.

      Draußen schlug die Turmuhr. Sechs Mal würde die Glocke dunkel läuten, das wusste Sarah. Es war Feierabend.

      »Nein«, beeilte sich der Mann auf der anderen Seite des Flures zu sagen, »du störst nicht, Kindchen. Überhaupt nicht. Ich wollte gerade den Laden schließen, weißt du, und da hätte ich ohnehin aufstehen müssen.« Der Mann ließ die runde Brille wieder auf die Nase sinken und setzte sich in Bewegung. Langsam schritt er durch den Flur, griff mal rechts, mal links nach einem Riemen. »Wie soll der Gürtel denn aussehen, den du suchst?« Er sah zu Sarah. »Für dich?«

      Sarah hatte den Eindruck, dass er sie von oben nach unten musterte.

      »Breit? Schwarz?« Ohne eine Antwort abzuwarten, suchte der Mann in dem von der Wand hängenden Leder und zog einen Gürtel hervor. »Schau, dieser hier.«

      Sarah trat keinen Schritt auf den Mann zu, aber das war auch gar nicht nötig, denn er war schnell bei ihr.

      »Echtes Leder, Kindchen. Fühle mal.« Er hielt ihr den Gürtel entgegen und sah ihr dabei von oben herab in die Augen, als sei seine Feststellung eine zweideutige. Oder als wolle er etwas ergründen.

      Sarah fürchtete, dass er ihr nicht glaubte. Vielleicht hielt er sie für eine Diebin, die sich durch die knarrende Tür verraten hatte. Sie entschied sich, besser die Flucht nach vorn zu ergreifen. »Ich würde mich wirklich gern später entscheiden. Sie wollten den Laden doch gerade schließen …«

      »Natürlich«, sagte der Mann und ließ seine Hand sinken. »Selbstverständlich.« Sein Blick bohrte weiter in Sarahs Augen.

      Mit einem verlegenen Lächeln griff Sarah hinter sich, tastete nach der Türklinke. Sie wollte sich nicht einfach wegdrehen. Dieser Flur war ihr beinahe unheimlich. Das trübe Licht, welches von der anderen Seite her leuchtete. Die vielen Riemen. Der Geruch. Und dann dieser Mann.

      »Eine Frage noch, bevor du gehst.«

      Sarah drückte bereits die Türklinke nach unten, zögerte aber. »Ja?«

      »Was gefällt dir an einem Ledergürtel am besten?« Der Mann drehte den Riemen in seiner Hand zu einer Schlaufe und legte den Kopf schräg. Hinter seiner Brille forschten blaugraue Augen.

      »Der Geruch«, antwortete Sarah und erschrak sogleich über ihre Antwort. Zu spontan. Zu ehrlich.

      »Der Geruch. Verstehe.« Der Mann nickte langsam, als würde er darüber nachdenken und dann feststellen, dass die Antwort eine mögliche gewesen sei. »Wir sehen uns morgen, Kindchen. Ich glaube, ich habe da etwas für dich.« Lächelnd entließ er Sarah auf den Hinterhof. Während sie durchatmete und die kalte Luft einsog, hörte sie das Schloss der Holztür hinter sich zweimal schnappen.