»Wahrscheinlich«, antwortete Sigvard vom Kamin her. »Er heißt übrigens Andersen.«
»Andersen, soso.«
»Wissen Sie das nicht? Und er kommt jeden Sonnabend und Sonntag her.«
»Dann treffe ich ihn wohl.«
Sigvard warf zaghaft hin:
»Sie sind wohl so lange in den heißen Ländern gewesen, daß Sie hier oben beständig frieren müssen.«
»Im Süden sind die Häuser aus Stein gebaut,« antwortete der Fremde, »und es gibt dort unten manche, die eine stete, unausrottbare Kälte in ihren Mauern haben, wie Grabkammern. Grabkammern werden immer kälter. Vielleicht mit jedem Jahrzehnt nur ein wenig, ganz unmerklich wenig kälter, aber doch kälter, in alle Ewigkeit immer kälter und kälter.«
Ann-Maris Stimme rief aus der Küche nach Sigvard, und er ging sogleich zu ihr hinaus. Bald kamen die beiden wieder herein. Ann-Mari deckte den obersten Teil des Tisches, an dem der Fremde saß, Sigvard blieb daneben stehen und wartete, ein Kaffeeservice behutsam in den Armen haltend. Sowie das Tuch mit großer Sorgfalt ausgebreitet war, machte Sigvard Miene, die Kaffeekanne niederzustellen, aber Ann-Mari hielt ihn mit einem vorwurfsvollen Blick zurück, eine ärgerliche Röte stieg ihr in die Wangen – wie konnte er sich erlauben! Ein Stück nach dem andern nahm sie ihm aus den Armen, Tassen, Teller, Butter und die Kanne, es war, als nehme sie alles von einem stummen Diener, hier waren die Arbeitsgebiete schon streng abgegrenzt. Sie deckte den Tisch zierlich mit weiblicher Anmut, und als Sigvard linkisch mit dem leeren Brett stehenblieb, drehte sie ihn um und schob ihn sanft beiseite, beunruhigt von dem Gedanken, daß seine Täppischkeit ihr Schande machen könnte. Er trabte mit dem Brett in die Küche hinaus, in seinen Bewegungen einem großen jungen Hund nicht unähnlich.
Der Fremde aß nicht viel. Er saß die ganze Zeit da und beschattete die Augen mit der einen Hand. Das blendende Frühlingslicht erfüllte das Viereck der Tür mit einer phantastischen Stickerei aus Luft und weißen Wolken. Ann-Mari merkte es und lehnte die Tür an, so daß es in dem großen Räume wieder dunkel wurde. Dann räumte sie den Tisch ab.
Der fremde Gast war nun allein im Zimmer. Durch die offene Tür hörte er Ann-Maris und Sigvards gedämpfte Stimmen. Es war ein vertrauliches Geplauder, aber ein aufmerksamer Zuhörer hätte vielleicht gemerkt, daß Ann-Maris Stimme belehrend und die Sigvards fragend und einräumend war.
Da kam Signe in das Zimmer, die Mutter, die Hellsichtige.
Sie kam vom Fluß herauf und trug einige Fischgeräte, die sie in eine Ecke legte. Der Fremde erhob sich sofort und stellte sich mit dem Rücken gegen den glühenden Kamin. Sein Kopf leuchtete weiß in dem halbdunklen Raum.
Signe ging im Zimmer hin und her, sie hatte allerlei zu ordnen.
Der Gast beobachtete sie die ganze Zeit unverwandt. Aber sonderbarerweise hatte es den Anschein, als ob Signe seine Gegenwart gar nicht bemerkte. Sie hatte nicht genickt, als sie hereinkam, und sie ging mehrere Male an ihm vorbei, ohne ihn zu sehen, obwohl sie ihn ansah.
Plötzlich rief er sie an, sagte ihren Namen leise, beinahe flüsternd: »Signe.«
Sie hielt einen Augenblick in ihrer Tätigkeit inne und stand lauschend da, aber arbeitete dann nur um so emsiger weiter. Da rief er sie wiederum, diesmal lauter:
»Signe,« sagte er, »ich bin es.«
Sie wandte sich dem Kamin zu und legte die Hände, diese mageren, arbeitsamen Hände, angstvoll an ihre Brust. Sie starrte ihn an, aber sie sah ihn nicht. Ihre Augen, die einen weißschimmernden, fischartigen Glanz hatten, sahen durch ihn hindurch, als ob er nichts Lebendes wäre, sondern nur ein tieferer Teil der Dunkelheit, die die Flammen des Kamins durchglühten. Dann beendete sie ihre Arbeit und verließ still das Zimmer.
IX. Der Lotsenälteste bekommt Besuch
Im Laufe des Tages traf der fremde Gast mit dem Pfarrer zusammen.
Der junge Pfarrer war noch nicht sehr lange im Amte, er nahm großes Interesse an den Verhältnissen und wollte offenbar gerne wissen, was dieser fremde Mann hier zu tun beabsichtigte. Der Geistliche mußte wieder in sein Hauptkirchspiel zurück und schlenderte jetzt auf der Brücke herum, auf sein Boot wartend.
»Ich frage nicht aus Neugierde,« sagte er, »aber vielleicht kann ich Ihnen in der einen oder anderen Weise beistehen.«
In das Gesicht des Fremden trat ein wunderliches Lächeln, ein verlegener, eigentlich ein verschüchterter Ausdruck.
»Ich bin nur hergekommen, um mich auszuruhen,« erwiderte er, »aber vielleicht reise ich bald wieder ab, ich weiß nicht recht, ich habe eine solche Unruhe im Blut.«
»So ist es oft mit denen, die weit umherreisen«, sagte der Geistliche.
»Weit umher,« murmelte der Fremde, »ja, das ist richtig. Aber dennoch ist es, als wäre ich noch lange nicht dorthin gekommen, wo ich hin soll.«
Er sah sich scheu um, vielleicht spürte er all die neugierigen Augen, die hinter den Gardinen und Fensterblumen nach ihm ausguckten.
»Ich weiß bestimmt,« fuhr er fort, »daß ein Ort wie dieser mir oft im Sinn gelegen hat, wenn ich mich müde und verbraucht fühlte, ein Ort, wo es selig sein könnte, auszuruhen. Aber jetzt, wo ich hergekommen bin, glaube ich doch nicht am Ziele zu sein. Es ist seltsam.«
»Die ewige Unruhe des Menschen«, sagte der Pfarrer, indem er den Fremden mit Anteilnahme betrachtete. Der Fremde hatte nicht allein einen abstechenden Sprachton, sondern führte auch sonderbare Reden. Sein Gesicht mit dem weißgrauen Haar und Bart hatte gleichsam kein Alter. In einem Augenblick strahlte ein vollkommen jugendliches Antlitz durch die Alterszeichen, im nächsten war alles von der Schwermut des Alters überhaucht. Dieses beständig Wechselnde vertiefte das Unbekannte und Fremdartige seiner Erscheinung. Er sah sich in einer gewissen lauernden Weise um, er atmete die Luft mit zurückgeworfenem Kopf, beinahe tierisch ein, wie ein Hund, der ganz unbekannte Gegenden beschnüffelt, er schien verwundert über seine eigene Gegenwart zu sein.
»Wie befinden Sie sich im Fährhaus?« fragte der Geistliche.
»Gut«, antwortete der andere zurückhaltend.
Der Pfarrer wollte den Gegenstand noch nicht fallen lassen.
»Die ältere Frau regiert eigentlich das Haus«, sagte er. »All die anderen beugen sich ihrem starken Willen. Haben Sie bemerkt, daß sie etwas Zigeunerhaftes an sich hat? Ich weiß nicht warum, sie erinnert mich an die Hexenprozesse früherer Zeiten. Vielleicht hat sie hypnotische Gaben. Ihre Macht über andere ist groß. So ist es oft mit Leuten, die von einer fixen Idee besessen sind. Ich kenne sie noch nicht lange, auf mich wirkt sie etwas unheimlich. Aber ich habe gehört, daß sie früher einmal eine überaus achtbare und arbeitsame Frau war.
»Warum kann man das jetzt nicht mehr von ihr sagen?«
Der Pfarrer schüttelte den Kopf.
»Sie ist ein Fluch für die ganze Gegend geworden,« sagte er, »sicherlich, ohne es zu wollen, das unglückliche Wesen. Ihr Wirtshaus richtet alles hier im Umkreis zugrunde. Sie sieht ja selbst ganz gut, wie all die kleinen Häuslichkeiten im Umkreis unter der Trunksucht der Männer und der Jugend leiden. Es ist ihre fixe Idee, daß sie Taler um Taler für den Sohn Andreas zusammenscharren muß, den sie zurückerwartet. Sie ist von diesem Gedanken nicht loszukriegen. Ein wahnwitziger Gedanke! Der Sohn ist vor zwanzig Jahren mit einem Schiff verschwunden, das mit Mann und Maus untergegangen ist. Niemand hat seither etwas von dem Schicksal des Fahrzeugs gehört. Es ist sonderbar, wie dieses Schiff, das den Menschen zum Segen gereichen sollte, ihnen anstatt dessen zum Fluch wurde. Die Leute können nicht davon los.«
Der Pfarrer deutete auf das große Fährhaus, das in der einfallenden Dunkelheit gleichsam größer zu werden schien.