Patience und ich sind an dem Abend wie üblich zu Bett gegangen. Sie hat die Lampe ausgemacht. Dann … ich weiß nicht, wie lange danach … hab ich gehört, wie wer meinen Namen sagt. Ich hab die Augen aufgemacht. Alles war dunkel und still. Ich hab gewartet. Gehorcht. Still war's, als ob's auf der ganzen Welt kein anderes Geräusch als meinen Atem gab. Dann … hat wieder wer meinen Namen gesagt, und ich hab ans Fußende vom Bett geguckt. Und da hab ich sie gesehen.
Schnell suchte Matthew den Anfang von Violet Adams' Zeugenaussage über das Betreten des Hamilton-Hauses heraus. Sein Herz trommelte in seiner Brust, als er den Finger auf die entscheidende Zeile legte.
Es war still, wie wenn … nur ich am Atmen bin und es sonst kein Geräusch gäb.
Drei Zeugen.
Drei Aussagen.
Aber immer das gleiche Wort: still.
Und dann das mit dem Atmen – dass es das einzige Geräusch war. Wie konnte das ein Zufall sein? Ebenso der Ausdruck »auf der ganzen Welt«, den sowohl Buckner als auch Garrick benutzt hatten … es ergab doch keinerlei Sinn, dass beide Männer genau den gleichen Ausdruck benutzt hatten.
Es sei denn … dass allen drei Zeugen eingeflößt worden war, was sie aussagen sollten. Und zwar, ohne dass sie sich dessen bewusst waren.
Matthew rann ein Schauder über den Rücken. Seine Nackenhaare stellten sich auf. Ihm wurde klar, dass er gerade einen Blick auf den mysteriösen Schatten erhascht hatte, dem er hinterherjagte.
Und das war eine schreckliche Erkenntnis. Denn es bedeutete, dass dieser Schatten größer und dunkler, seltsamer und machtvoller war, als er anzunehmen gewagt hatte. Der Schatten hatte die ganze Zeit hinter Jeremiah Buckner, Elias Garrick und Violet Adams im Gefängnis gestanden, während sie aussagten.
»Oh Gott«, wisperte Matthew mit großen Augen. Denn er erkannte, dass dieser Schatten ihrem Verstand innewohnte, ihnen Wörter, Gefühle und falsche Erinnerungen eingeflößt hatte. Die drei Zeugen waren wie Marionetten aus Fleisch und Blut, die von einer solch bösartigen Hand dirigiert wurden, dass es Matthews Vorstellungskraft überstieg.
Eine Hand. Die gleiche Hand. Eine Hand, die dem Teufel sechs Goldknöpfe an den Mantel genäht hatte. Die einen weißhaarigen Kobold, ein ledriges Echsengeschöpf, das halb Mensch war, und eine bizarre Kreatur geschaffen hatte, die sowohl einen männlichen Penis als auch weibliche Brüste hatte. Dieselbe Hand hatte diese widerwärtig perversen Momente geschaffen, sie anscheinend in die Luft gemalt, um sie Buckner, Garrick, Violet und vermutlich noch anderen Einwohnern von Fount Royal zu zeigen, die ihrer geistigen Gesundheit zuliebe längst die Flucht ergriffen hatten. Denn darum handelte es sich bei diesen Szenerien: Luftgemälde. Oder vielmehr um Gemälde, die in einem gebannten Verstand, der sie als tatsächliche Geschehnisse akzeptierte, zum Leben erwachten.
Darum konnte Buckner sich nicht daran erinnern, wo er seinen Stock hingestellt hatte, ohne den er nicht gehen konnte – oder ob er draußen in der kalten Februarnacht einen Mantel angehabt hatte. Und ob er seine Schuhe ausgezogen hatte, als er wieder ins Bett ging.
Darum konnte Garrick sich nicht entsinnen, welche Kleidung er angehabt hatte, als er nach draußen ging, um sich zu übergeben. Oder wie die sechs Goldknöpfe auf dem Mantel angeordnet waren, obwohl er sich an ihre Anzahl genau erinnern konnte.
Darum hatte Violet Adams den Gestank des verwesenden Hundes nicht bemerkt, oder die Tatsache, dass das alte Haus der Hamiltons voller streunender Hunde war.
Keiner der drei Zeugen hatte etwas außer diesen Gedankengemälden gesehen, die von einer Schattenhand erschaffen worden waren, die manche Details betont hatte, um zu schockieren und Abscheu hervorzurufen – die Art von Details, die vor Gericht vernichtend sein würden. Normalere Einzelheiten, die kein Aufsehen verursachen würden, waren dafür ausgelassen worden.
Außer der Anordnung der Goldknöpfe auf dem Mantel, dachte Matthew. Dort war die Schattenhand … theatralisch vorgegangen. Ein anderes Wort fiel ihm dafür nicht ein.
Die Hand hatte übersehen, die Knöpfe für Buckner und Garrick genau aufzureihen, und dann versucht, das wieder gutzumachen, indem sie dieses Detail für Violet hervorhob. Denn Violet sammelte Knöpfe und war daher vielleicht prädestiniert dazu, sich ihre Anordnung zu merken.
Matthew kam der Gedanke, dass diese Schattenhand vielleicht die Strohpuppen unter Rachels Fußbodenbrettern versteckt hatte – und dann Cara Grunewalds Traum gemalt hatte, in dem sie dort etwas Wichtiges versteckt sah. Zu gern hätte Matthew mit Madam Grunewald gesprochen, um herauszufinden, wann sie an jenem Abend schlafen gegangen war und ob alles so still gewesen war, als ob die ganze Welt Angst gehabt hätte zu atmen.
Matthew blätterte durch die Seiten, bis er zu einer anderen Stelle kam, an die er sich aus Garricks Aussage noch erinnern konnte: Als er Garrick wiederholt aufgefordert hatte zu beschreiben, wie die sechs Goldknöpfe angeordnet waren, und auf einer Antwort beharrt hatte. Der Mann war schließlich immer verwirrter und aufgeregter geworden.
Garrick hatte seine Antwort geflüstert: »Es war ganz still in der Stadt. Still. Als ob die ganze Welt Angst hat, Luft zu holen.«
Matthew war sich bewusst, dass er Garrick Sätze hatte sagen hören, die ihm von der Schattenhand eingegeben worden waren. Garrick war nicht imstande gewesen, die Frage zu beantworten, und hatte sich in seiner Verwirrung auf die schlafwandlerischen Phrasen konzentriert – denn die waren es, an die er sich am besten erinnern konnte.
Und nun stellte sich die Frage, was es mit Linchs Gesang im dunklen Hamilton-Haus auf sich hatte. Falls Violet das Haus in Wirklichkeit gar nicht betreten hatte – wie konnte sie dann den Rattenfänger sein groteskes Liedchen im Hinterzimmer singen gehört haben?
Matthew legte die Papiere weg und trank seinen Tee aus. Er starrte aus dem Fenster auf das Sklavenquartier und die sich dahinter erstreckende Dunkelheit. Wenn er nicht durch sein Eindringen in Linchs Haus herausgefunden hätte, dass der Rattenfänger seine wahre Identität hinter einer klug konstruierten Fassade verbarg, hätte er Violets Erinnerung an das Liedchen vielleicht für einen Traum gehalten.
Linch konnte lesen und war offensichtlich ein listiger Mann. Handelte es sich bei der Schattenfigur um ihn, die die drei Zeugen manipuliert hatte?
Aber warum? Und wie? Durch was für einen Zauber hatte Linch – oder wer auch immer – drei verschiedenen Menschen ganz ähnliche teuflische Erscheinungen vorgegaukelt, die sie, ohne daran zu zweifeln, für tatsächliches Geschehen hielten? Es musste sich um irgendeine Art der dunklen Magie handeln. Nicht um wahres Teufelswerk, sondern um die Art von Zauber, die durch einen korrupten und gemeinen Menschen ausgeübt wird. Aber es war so detailgenau und präzise – ganz, wie Linch in Wahrheit selbst zu sein schien.
Matthew konnte nicht verstehen, wie Linch – oder sonst jemand – dies zustande gebracht haben konnte.
Es schien ganz und gar unmöglich zu sein, dem Verstand von drei verschiedenen Menschen die gleiche Vorstellung vorzugaukeln. Und trotzdem war Matthew davon überzeugt, dass genau das geschehen war.
Die Frage nach dem Motiv stellte sich noch immer. Warum sollte jemand sich so viel Mühe geben – und ein so unglaubliches Risiko eingehen, um Rachel als eine Teufelsdirne darzustellen? Es musste um wesentlich mehr gehen als nur darum, die Spuren von den Morden an Reverend Grove und Daniel Howarth zu verwischen. Im Gegenteil: Matthew kam es vor, als wären die Morde begangen worden, um Rachel noch verdächtiger zu machen.
Es war also darum gegangen, eine Hexe zu erschaffen, dachte Matthew. Schon bevor Grove ermordet wurde, war Rachel von vielen Menschen im Ort nicht gemocht worden. Ihre dunkle Schönheit konnte sie unter den Frauen nicht gerade beliebter machen, und ihre portugiesische Abstammung erinnerte die Männer ständig daran, wie nahe ihre Felder an spanischem Hoheitsgebiet lagen. Sie war schlagfertig, eigenwillig und hatte Mut. All das gefiel den Kirchgängern nicht. Rachel war daher schon von Anfang an eine perfekte Kandidatin gewesen.
Matthew nahm sich ein weiteres Stück Gebäck. Er schaute zu den Sternen hinaus, die über dem Meer flackerten, und