Und der Knabe hielt sein Versprechen. Er war schlank und wohlgebildet und hatte jene pagenhafte Art, die Knaben von seiner Art die gröberen Altersgenossen fliehen und die Einsamkeit mit ihrem Rauschen und Raunen lieben läßt; so daß mit vierzehn Jahren viel mehr Dichter in den Landen herumträumen, als das Leben später zuläßt. Er betrachtete das Grafenkind mit bewundernder Scheu, weil sie viel Leids erlebt hatte und weil sie des Grafen Kind war. Und er freute sich, daß sie in seinen Märchen so gut die traurige Prinzessin oder verlassene Königin vorstellen konnte, die auf ihren Ritter wartet.
Berta gab ihm denn auch gern ihre Hand, wenn sie in den Wald gingen, gesittet wie bei Hofe, und lauschte seinen Worten, denn er wußte gar manches, was sie noch nicht gelernt hatte. Und im dichten Waldesschatten sitzend, erzählten sie einander von ihrem Leben.
»Ich will einmal was Großes werden,« sagte er, »der Vater möchte mich zu einem Soldaten machen, aber ich will lieber ein Gelehrter werden oder ein berühmter Arzt oder ein Papst, der in Rom wohnt. Und die Mutter, meine liebe Mutter« ..... da unterbrach er sich aber, denn er hatte einen flüchtigen Blick auf Berta getan und nun schwieg er betroffen still. Die zwei großen, blauen Augen neben den seinigen taten ihm leid, sie waren so traurig, und plötzlich schlang er den Arm um die Schultern seiner Gespielin: »Du mußt immer bei uns bleiben, bei uns ist es schön und, wenn ich ins Kloster komme, um zu lernen, mußt du an meiner Statt bei der – bei dem Vater und der Mutter bleiben. Im Sommer kehre ich dann immer wieder zu euch heim und dann wollen wir mitsammen in den Wald gehen und ich will dein Lehrer sein. Willst du, willst du?« fragte er in der eindringlichen Art von Kindern.
»Ja, ich will,« sagte sie. »Aber du mußt auch einmal zu uns aufs Schloß kommen.« Dabei rückte sie noch einmal so eng an Leon heran und senkte ihre Stimme und flüsterte ihm ins Ohr: »Und dann mußt du über den dunklen Gang in das hohe Zimmer gehen, wo die arme traurige Frau ist, und mußt ihr sagen, sie dürfe nicht so traurig sein und solle mit uns kommen! Willst du, willst du?«
»Deine Mutter,« sagte Leon geheimnisvoll und stolz, daß er um das Geheimnis wußte. »Ist das meine Mutter?« brachten die bleichen Lippen Bertas mühsam hervor. »Ich habe keine Mutter! Wenn sie meine Mutter ist, die arme, erschrockene Frau drüben, warum lassen sie mich nicht zu ihr? Warum hat sie die Arme so vor sich ausgestreckt, wie sie mich erblickte?« Und sie streckte die Hände weit von sich und machte das entsetzte Larvengesicht wie damals, da sie bei der Kranken gewesen war.
Darauf wußte der Knabe aber keine Antwort, und sie saßen eng umschlungen unter dem alten Baume, und sie weinte, während der Knabe die von Tränen Erschütterte nur immer an sich hielt und streichelte.
»Mutter,« fragte Leon in der Dämmerung, da sie allein miteinander waren, »Mutter, sprich, warum weiß Berta nicht, daß die kranke Frau in dem großen Zimmer im Schlosse ihre Mutter ist? Warum weint sie und glaubt, daß sie keine Mutter habe?«
Da stand die Mutter auf und holte Berta und sagte ihr mild und sanft, daß jene bleiche Frau im Saale eben ihre Mutter sei, eine gute, liebe Mutter, nur daß sie krank sei, denn ein Nebel habe sich vor ihre Augen gesenkt, so daß sie weder den Grafen, noch auch ihr eigenes geliebtes Kind sehen könne und immer nach ihnen begehre und sie herbei wünsche. Wenn dann der Graf zu ihr käme und liebreich zu ihr spreche, dann glaube sie ihm nicht, und kein Arzt habe sie bisher heilen können. Aber einmal werde gewiß der große Arzt kommen, der sie erlösen und heilen werde!
»Und der werde ich sein,« sagte der Knabe.
»Du nicht, du wahrhaftig nicht,« sprach erschrocken die Mutter, »an dich habe ich bei diesen Worten nicht gedacht, so sei Gott meiner Seele gnädig und behüte dich!« Und sie bekreuzte den Knaben.
»Ich will aber Berten ihre Mutter gesund machen und Berta glücklich,« trotzte der Knabe. »Und darum will ich im Kloster fleißig lernen und dann noch lernen und immer lernen, bis ich ein berühmter Arzt sein werde. Und dann will ich die Frau Gräfin gesund machen und Berta soll sich freuen und lachen!« Und er fügte tiefsinnig hinzu: »Denn du mußt wissen, Mutter, daß Berta noch nicht gelacht hat, seit sie bei uns ist, und ich habe ihr doch schon die Geschichte vom dummen Peter erzählt, über die du selbst immer lachen mußt!«
»Ich aber habe sie schon lachen gesehen,« sagte die Mutter. »In der Nacht habe ich mich mit dem Kienspan in der Hand an ihr Bett gesetzt, und da hat sie immer, wenn das Licht über ihr Gesicht huschte, aus dem Schlafe gelacht. Siehst du, genau so wie jetzt, nicht laut, aber ihr Gesicht hat gelacht. Und da hat sie sicher ein schönes Märchen geträumt!« »Ja,« sagte Berta eifrig, »und Leon ritt auf einem Pferde und es war Winter und das Pferd hatte Pelzschuhe an den Füßen!«
Da lachten sie alle drei und Bertas Stimme lachte laut mit.
Als der Herbst gekommen war und der Knabe von Berta Abschied nehmen sollte, da führte er sie noch einmal in den Wald hinaus zu ihrem Lieblingsplätzchen und sie waren beide beklommen und traurig.
»Du hast es gut, Berta,« sagte Leon, »du wirst den Winter über bei uns bleiben, ich aber muß fort und kann erst in ein oder zwei Jahren wieder zurück.«
»Warum in zwei Jahren?« fragte Berta erschrocken.
»Weil ich jetzt Chorknabe werden soll. Da muß ich auch über den Sommer im Kloster bleiben. Aber vielleicht lassen sie mich im nächsten Jahre noch heim und behalten mich erst übers Jahr im Kloster.«
»Ich will aber nicht, daß du wegbleibst!« sagte Berta fast zornig, »und wenn ich es meinem Vater sage, so wird er es den Klosterleuten verbieten!«
»Bis dahin hast du mich längst vergessen,« meinte der Knabe, »was liegt dir denn an mir!«
Da schaute ihn das Mädchen mit einem langen, vorwurfsvollen Blicke an und es mußte ihr sehr nahe gehen, denn langsam überzogen sich ihre Augen mit einem feuchten Schimmer und der ward zu Tränen, die groß und schwer über ihre Lider sickerten. Und sie konnte nichts sagen, kein Wörtlein, weil ihre Lippen so zitterten. Der Knabe stand ganz ratlos neben ihr und wußte auch nichts Gescheiteres zu tun und weinte auch. Und dann gingen die beiden Hand in Hand und immer wieder aufschluchzend nach Hause.
»Daß nur die Mutter nichts sieht!« sagte Leon.
»Daß nur die Mutter nichts merkt!« schluchzte Berta. Und es war ihnen, als ob nun ein schweres Geheimnis, fast wie ein Verbrechen, sie beide noch enger aneinander kette, und wußten doch nicht, was sie getan hatten. Und als Leon am nächsten Tage davonfuhr, da hob er, als die Mutter unter dem Tore just wegschaute, die zum Beten gefalteten Hände gegen Berta und sie nickte ihm voll Einverständnisses zu, obgleich sie beide nicht wußten, was Geheimnisvolles sie damit ausdrücken wollten.
Und der Wagen verschwand im Walde.
Aber es kam doch anders, als die Kinder geglaubt hatten. Als Leon im nächsten Jahre nach Hause fuhr und vom Berge oben die Meierei im Tale unten friedlich liegen sah, da klopfte ihm das Herz fast schmerzlich bei dem Gedanken, daß er nun Berta wiedersehen werde, nach der er sich das ganze Jahr so sehr gesehnt hatte. Aber seine Lippen sprachen dabei die Worte: »Liebe, liebe Mutter, wie sehn’ ich mich nach dir! Du liebe, liebe ....« und schon sprachen die Lippen auch weiter – »liebe, kleine Berta, wie wirst du mich mit deinen traurigen Augen ansehn!«
Dann aber erschrak er über den Verrat seiner Lippen und schloß die Augen, um recht innig an die Mutter zu denken und jeden andern Gedanken zu verscheuchen. Aber er mußte zwischendurch manchmal Berta sagen, oder er kehrte das Wort um und sagte Atreb vor sich hin in spielerischer Knabenart, Atreb und Noel, wie wenn sie beide aus der biblischen Geschichte wären!
Der Wagen hielt vor dem Tore, der Kutscher