Und jetzt, da ich sie niederschreibe, ist es mir hier in meinem Zimmer wie ein Wunder, daß weit von hier, hoch in den Wäldern droben, ein Kirchlein steht und daß dort durch ein tiefblaues Kirchenfenster die Sonne auf ein schmales Angesicht scheint, seit Jahrhunderten und wohl noch jahrhundertelang, ein Angesicht voll Leid und erkämpftem Frieden.
Meilenweit, hügelauf, hügelab Tannenwald um das weiße Schloß. Die Täler hinab bis an die Meierhöfe und kleinen Dörfer, die Berglehnen hinan und über die Bergrücken rauschender oder heiligstiller Forst mit sturmerprobten Bäumen bestanden; oben von dem einsamen Rundturme mit seinem spitzigen Dachhütlein schweift der Blick wie über ein großwelliges Meer über die hellgrünen Baumkronen in der Nähe, über die schon ferneren dunkelgrünen Wipfelfelder, über das bläuliche Grün der Forste am Horizonte, die wie breite Moosflächen sich an den runden Himmelsrand schmiegen. Und drüber über dem besonnten und doch so dunklen Grün schwebt auf breiten Schwingen ein Adler oder wiegt sich wohlig ein Edelfalke. Deutsche Waldlandschaft, Besitz des Grafen Otto Eberstein, der mit seinen fünfzig Jahren mächtig und eigensinnig in seinem Schlosse sitzt und doch schon ein Greis sein sollte, so viele Pfade und Steige hat die Sorge und das Leid zum Schlosse gefunden. Er war ein gar lebensfreudiger Herr gewesen, der neben dem Fürsten sitzen durfte und dessen Schimmel gleich hinter des Kaisers Rappen in das Geschirr schäumte, wenn sie prächtig zum Reichstage ritten. Dann hatte ihn eine edle Fürstentochter zum Gatten erwählt, und sie hatten ein glückliches Jahr in dem weißen Schlosse verlebt und der Forst hatte Ja und Amen dazu gerauscht: bis die Tochter Berta geboren ward, ein glückliches Ereignis und doch allen Elends Anfang. Denn die junge Mutter verfiel in eine schwere, hitzige Krankheit, aus der ihr Leib genas, indes ihr Gemüt verwirrt blieb in einer tiefen Schwermut, daraus sie nie wieder genesen sollte.
Sie saß die erste Zeit nach ihrer Krankheit trübselig auf ihrem Lager, auf ihre entstellten, schlaffen Brüste niederstarrend oder im Spiegel die verlorene Frische ihrer Wangen suchend, als könnte ihre Schönheit unmöglich wiederkehren: so tiefe Runen hatten die Schmerzen der Geburt und die Leiden ihres Siechtums in ihr zartes, mondscheinblasses Gesicht geschrieben. Dann lachte sie traurig auf und barg sich hinter dem Linnen, wenn der Graf sie besuchen kam und wollte sich um keinen Preis zeigen: so häßlich schien sie sich, so zerstört deuchte sie ihr Liebesglück, so abscheulich ihr Körper und ihr Antlitz, daß sie immer wieder aufjammerte, nun werde der Graf sein Liebesverlangen bei schöneren Frauen stillen. Und einmal ward sie von der Amme überrascht, da sie sich eben über die Wiege des Kindes beugte mit funkelnden, rachegierigen Augen, und dann blitzschnell den Säugling in die Höhe hob, wohl um ihn an der Wand zu zerschmettern. Da war ihr die starke Bauernmagd noch rechtzeitig in die Arme gefallen und hatte das Kind gerettet. Die Gräfin aber wurde von dem Tage an in einen fernen Teil des Schlosses gebracht und dort wohl bewacht, daß sie nicht mehr zum Kinde kommen konnte.
Dort lebte die Kranke denn die jungen Jahre ihres Lebens dahin mit der Wärterin und späterhin mit der Amme, da das Kind ihrer nicht mehr bedurfte, trübselig vor sich hinstarrend und immer seltener in einen jener fürchterlichen Wutausbrüche verfallend, daraus sie noch elender und siecher hervorging.
So daß die mutterlose Berta eine traurige und liebeleere Kindheit verträumte.
Denn der Graf hatte wohl die ersten Monate in inniger, liebreicher Teilnahme sein verwirrtes Ehegemahl betreut, da er jeden Morgen von neuem gehofft hatte, der böse Schleier, der sich um ihr Gemüt gelegt hatte, müsse sich endlich heben und die Augen der Gräfin wieder klar, heiter und warm zu ihm emporblicken. Aber Tag um Tag, Woche um Woche verging, aus den Augen der Kranken starrte ihn ein schreckhaftes Nichterkennen, eine böse Angst an, und der Sonnenstrahl, der ihre einst so schönen, blauen Augen traf, wurde fahl und grau, wenn er aus ihren düsteren Augensternen zurückkehrte; so daß der Jammer mit knochigen Fingern immer fester des Grafen Herz umkrallte, bis daß er hoffnungslos, gleichgültig und endlich fast feindselig sich gegen sein Weib auflehnte und immer seltener das Gemach der Kranken aufsuchte.
Zu Berta hatte er eine verwitwete Verwandte ins Schloß berufen, die in Trauerkleidern das verschüchterte Kind leitete und die auch das Trauerkleid von ihrer Seele nicht abstreifen konnte, so liebevoll und zart sie auch mit dem Kinde umging. Und in den ersten Jugendjahren war es für das Kind immer noch ein Fest, wenn die Amme einmal herüberkam und mit ihr schön tat. Denn der Vater verstand die holde Kunst schlecht, eines Kindes Seele zu eröffnen und ihr ein Lachen, ein Jubeln, ein Jauchzen zu entlocken, das die eigene Seele wieder jung zu machen und ihre Flügel zu lösen vermag.
So war das Kind zehn Jahre alt geworden und ein kluges, stilles und verträumtes Kind mit den tiefsten und klarsten blauen Kinderaugen und sah versonnen und traumverloren in die Welt, die ihr aus Zimmern, seltsamen Menschen und Waldesrauschen bestand und darin ihr, ohne daß sie wußte was, etwas fehlte, das ihre Augen hätte aufleuchten lassen. Und es war wieder einmal die Amme bei ihr gewesen und hatte ihr abergläubische und wunderbare Märchen erzählt bis in die Dämmerung. Berta hatte sich an ihre Kniee geschmiegt und sie hundertmal umarmt und ihr immer wieder verstohlen zugeflüstert: »Ach, Amme, du bist gut!« Bis einer der Diener von der Gräfin drüben sie holte; die sei wieder schlimm geworden. Da war die Amme davongeeilt, um nach ihrer Kranken zu schauen. Und hatte nicht gemerkt, daß das Kind, durch das Dunkel und die Märchen verwirrt, ihr nachschlich, wohl weil seine Liebe es der guten Amme nachdrängte, vielleicht auch, weil es etwas ahnte oder fürchtete in seinem erwachten Kinderherzen, ein tiefes Geheimnis, das man ihm verbarg, und das es entdecken wollte.
So geschah es, daß Berta auf dem dunklen Gange durch die verbotene Tür schlüpfte und plötzlich in einem hohen, erleuchteten Zimmer stand, darin eine große Frau mit aufgelösten Haaren schreiend und händeringend umherirrte und sich dann erschöpft auf die Erde hinkauerte, den Kopf jammernd zwischen den Knieen verbergend. Dann hob die Frau ihr Haupt wieder empor und starrte plötzlich mit dem weit offenen Munde einer Maske und mit entsetzten Blicken zur Türe, wo das Kind zitternd stand, und dann stieß der starre Mund einen furchtbaren Schrei aus. Da hatte die Amme aber auch schon das Kind erblickt und hatte es schnell aus der Tür gedrängt und mit einem der Diener in sein Zimmer geschickt.
Es zitterte und war ganz bleich geworden, es hatte den Mund offen wie jene Frau drüben, nur daß es nicht schreien konnte, und endlich in den Armen seiner Pflegemutter löste sich das Entsetzen des Kindes, ein heißer Tränenquell sänftigte sein verwirrtes Gemüt. Und so lag Berta die ganze Nacht in den Armen ihrer Pflegerin, die mild auf sie einsprach und die ihr Gesicht eng an des Kindes bleiche Wangen drückte, als wolle sie alle bösen Geister davon abhalten.
Nach diesem Abend, der das Mädchen um viele Jahre älter machte, wurde die kranke Gräfin mit der Amme in den runden einsamen Turm oben im Walde gebracht, zu dem ein schattiger Waldpfad wohl eine Stunde lang vom Schlosse emporklomm; so daß in den folgenden Nächten denen im Schlosse unten ein neues Sternlein aufleuchtete, die Ampel im friedlosen Schlafgemach der Gräfin.
Das Kind aber verblieb noch einige Monate im Schlosse. Es war sehr nachdenklich und schreckhaft geworden, aus dem Schlafe schrie es oft und verzerrte das Gesicht wie in einer großen Angst und stöhnte aus seinen Träumen. Da wußte sich der Graf, dem das scheue Wesen seines Kindes unheimlich war, nach langer Beratung mit seiner Base und dem Pfarrer keinen andern Rat, als sie aus dem Hause zu geben. Und Berta kam zu den Feldegg, armen Rittersleuten, die dem Grafen eine Meierei verwalteten und die stundenweit vom Schlosse in einem Tale hausten; hier verblieb Berta durch viele Monate.
Die ersten Wochen weilte die Base bei dem Mädchen. Dann aber fuhr sie von dannen, da sie sah, wie wohl die neue Umgebung und die Güte der Meiersleute auf das Gemüt des Kindes wirkten. Die waren brave Menschen, denen von ihren Kindern nur ein Knabe geblieben war, Leon, der etwa vierzehn Jahre zählen mochte, und sie freuten sich über die Auszeichnung, nunmehr die Tochter ihres Herrn pflegen zu dürfen; was ihnen in ihrer bedrängten Lage gewiß zum Vorteile gereichen mußte. Sie waren einst selbst wohlbegütert gewesen, aber durch Wetterschäden, allerlei Krankheiten und Unglück heruntergekommen, so daß sie gern ein Lehen des Grafen empfingen.
Nun nahm sich also Frau Anna, Leons Mutter, des armen Grafenkindes mit all der überschüssigen Liebe an, die ihren