Dubrovnik Turboprop. Sebastian Fust. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sebastian Fust
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783903005563
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es ging immer gut. Manchmal lächelte man sich auch verlegen an, gerade, wenn man nicht sprach – auch dafür war er bezahlt worden.

      Das erzählte die Großmutter auf der Fahrt zum Flughafen nach Augsburg, so oder zumindest in Teilen, den Rest konnte ich mir denken, denn die Geschichten hatte sie mir oft genug erzählt, auch, fuhr sie fort, dass ja dann der Krieg, der Bürgerkrieg gekommen war und sie deswegen nicht mehr nach Dubrovnik hatte reisen können, und dass sie in dieser schwierigen Zeit, der Kriegszeit, dem Ivo immer Carepakete geschickt hatte, Päckchen mit Kaffee, entkoffeiniert, und Süßigkeiten und Zigaretten und einem netten Brief, dass sie an ihn denke – und sobald der Krieg vorbei gewesen war, war sie noch einmal hingeflogen, und dann noch einmal – und jedes Mal war dort der Ivo gestanden, der treue Ivo, am Flughafen war er jedes Mal gestanden, nur um sie, diese Male nur sie alleine, abzuholen. Auch das wusste ich, und ich nickte freundlich, denn es war schön, wie sie es erzählte, es immer wieder erzählte, einer Litanei gleich wiederholte, geradezu heraufbeschwor, und wie ihre Bäckchen dabei rot wurden, ihr Gesicht von innen her zu leuchten begann, von innen her von einem Licht und einem Glück, einem glücklichen Gedanken, dieser schönen Erinnerung durchdrungen wurde. »Ja, der Ivo. Wenn ich jünger gewesen wäre, nur etwas jünger, wer weiß …«, und dann lachte sie, wie immer, wenn sie das erzählte, aber jetzt ein wenig aufgeregter, aufgekratzter als sonst, und sie fasste sich dabei an das kaputte, geschwollene Knie, denn jetzt, in nur wenigen Stunden, würde da nicht der Ivo wieder am Flughafen stehen, nur für sie am Flughafen stehen, fünf Jahre später, so, als wäre nichts gewesen, keine Zeit vergangen? Sie lachte, und dann, fast schüchtern, etwa wie ein kleines Mädchen es tun würde, schaute sie sich zur Rückbank um, wo Frau Dresenkamp saß, die Frauen schauten sich flüchtig an, und ich glaube, Frau Dresenkamp lächelte zurück, und dann schlief meine Oma ein.

      Augsburg hat einen Flughafen, einen kleinen Flughafen, ich wusste, bevor wir den Flug gebucht hatten, nicht einmal, dass die Brecht-Stadt überhaupt einen hat, aber sie hat einen, einen Regionalflughafen, von dort gingen Ende der Neunzigerjahre die einzigen Direktflüge nach Dubrovnik, nicht billig, aber die einzige Möglichkeit, und Geld spielte keine Rolle, dem Vater sei Dank, und außerdem sollte es die letzte Reise der greisen Dame sein, zumindest, wenn es nach ihr ging, und als die kleine Propellermaschine Fahrt aufgenommen hatte, als wir starteten und hörten, wie das Fahrwerk eingezogen wurde und sich die vielleicht zwanzig Passagiere darauf vorbereiteten, darauf hofften, die Anschnallgurte lösen zu dürfen, denn dann wäre die gefährliche Phase des Abhebens überstanden, da sagte sie:

      »Alexander, ich bin froh, dir diese Reise noch ermöglichen zu können.« Und ich lächelte sie an und sagte: »Schön, dass du das noch einmal machst. Hättest du nicht gedacht, oder?« »Ja. Ja.«, sagte sie, fasste mich an der Hand und nestelte mit der anderen an ihrer silbernen Halskette.

      »Nervös?«

      Sie schaute mich an und grinste. »Die Halskette. Weißt du, woher ich die hab? Die hab ich aus dem Krieg.« Und dann erzählte sie, wie in den letzten Kriegstagen ein Zug mit verwundeten Soldaten und mit Flüchtlingen, Frauen und Kindern, der Zug auf den Dächern der Wagons jeweils großflächig mit dem Roten Kreuz gekennzeichnet, also als Krankentransport ausgewiesen, durch die Genfer Konvention geschützt, von Tieffliegern beschossen worden war. (Als Kind sah ich noch die Einschusslöcher im Bahnhofsschuppen, kurz unterhalb des Giebels, glatte Löcher im gelb gestrichenen Holz, eine Salve.) Der Zug kam kurz hinter dem Bahnhof, hinter dem Bahnübergang, in der Schneise eines Hügels, zum Stehen, und sie erzählte, wie sie mit ihrem Hausmädchen eine der ersten an der Unfallstelle, ja, sie sagte Unfallstelle, der Krieg als Unfall, nicht einfach Unglück, nicht Schuld, sondern einfach Unfall, wie sie also eine der ersten gewesen sei an der Unfallstelle, und erzählte vom Schreien und Stöhnen der Verwundeten (der Flüchtlinge) und Doppeltverwundeten (der Soldaten, Verwundete der Ostfront, die nun durch Bayern lief) und Sterbenden (Soldaten wie Flüchtlinge) und dem Dampf, der aus dem Lokkessel wie aus Poren zischte und nutzlos pfiff und langsam, wie das Schreien und Stöhnen der Sterbenden leiser wurde, wie sie versuchten zu helfen, unsicher, in Angst, dass die Tiefflieger wieder zurückkehren würden, und in Angst, dass sie die Tiefflieger bei all dem Lärm der Verwundeten und Sterbenden und dem aus dem Lokkessel pfeifenden Dampf zu spät hören würden, zu spät, um selbst in Deckung gehen zu können, und wie sie, die beiden Frauen, die Dame mit dem blauen, dem fein geschnittenen blauen Kleid, dem Kleid aus gutem Stoff, einem Stoff, der weich fällt, in Wellen, einem Stoff, der wie Wellen über den Körper fällt, und ihr Hausmädchen, zwanzig Jahre alt vielleicht, die Haushaltsschürze, leuchtend weiß, umgebunden, um die schmale Taille gebunden, wie sie, die beiden Frauen, schließlich auf die erste Verwundete trafen. Sie fanden eine junge Frau neben den Bahngleisen, die sich aus dem Zug gerettet hatte, nur um jetzt, eben noch jung wie sie war, neben dem Gleisbett zu liegen, nicht viel älter als die Dame im blauen Kleid, eine Bäuerin vielleicht, rosa Kopftuch mit weißen Punkten, strähniges Haar, Bauchschuss, mit dunklem Blut auf dem blauen Bauernkleid (von anderem Blau, heller, fröhlicher, aber aus grobem Stoff, kratzendem Stoff, unmöglich geschnitten, gerade geschnitten, sackartig, mit einem hellbraunen, abgewetzten Ledergürtel (Schweineleder) in der Mitte zusammengerafft), das dunkle Blut, das nicht zu stoppen war und sich immer mehr und nutzlos verströmte, wie der Dampf aus dem Lokkessel, und als die Bauersfrau nach ihrem Kind fragte, die beiden Frauen nach dem Kind fragte, und, da es nun ans Sterben ging, trotz der Schmerzen ruhig, unbegreiflich ruhig war, wie sie da am Bahndamm, im Frühjahrsgras lag, wie sie dalag, drum herum Feldblumen, und als sie fragte, wie es ihrem Kind ginge und sich die beiden Frauen umschauten, auf den Dampf, den der Lokkessel ausstieß, energiegeladen, aber nutzlos, und das Blut aus der Bäuerin quoll und die Sterbenden schrien und dann wimmerten, nur um dann noch einmal, ein letztes Mal zu schreien, sich aufzubäumen oder schlicht in sich zusammenzusacken, und die beiden Frauen (jetzt, in ihrer Ratlosigkeit ohne Hierarchie, das Angestelltenverhältnis beinahe aufgehoben) ängstlich auf das Surren möglicher Tiefflieger lauschten und die Bäuerin im Gras liegen sahen, wo es für die Bäuerin keine Rettung, sondern nur ein Sterben gab, da schauten sich die beiden Frauen, die zur Hilfe geeilt waren (sicherlich war die Milch auf dem Herd längst übergekocht und der Topf, wenn überhaupt, nur schwer wieder zu säubern, aber wer wollte daran denken?), an und sagten, eine von beiden sagte, meine Großmutter sagte: »Deinem Kind geht es gut. Es ist dort hinten und wird gleich in Sicherheit gebracht. Sie retten zuerst die Kinder, dann die Verletzten.«, und die Bäuerin antwortete, dass es so gut sei. Eine der beiden Frauen sagte, dass gleich Hilfe kommen würde, und die Bäuerin lächelte und gab der Frau, die zu ihr gesprochen hatte, eine silberne Halskette, an der ein Hampelmann aus Silber hing, welcher zwischen den Beinen einen silber gewirkten Faden hatte, der, wenn man an ihm zog, die Arme und Beine des Hampelmanns bewegte, so bewegte, wie sich nur ein Hampelmann bewegen konnte, und die Bauersfrau sagte, sie solle es doch bitte ihrem Kind geben. »Ja«, sagte die Frau zur Bäuerin im Gras zwischen den Blumen, mit dem Blut auf dem blauen Bauernkleid. Dann hörten sie die Tiefflieger wiederkommen, und die beiden Frauen flohen über die Böschung hinter einen Baum, versteckten sich hinter dessen moosbewachsenem Stamm (und dachten: Nordwest!), hörten das Anschwellen der Propellergeräusche der Tiefflieger und dann das Rattern der Maschinengewehre, und als die Tiefflieger fort waren, gingen sie zur Bäuerin und fanden sie tot.

      Meine Großmutter erzählte, dass niemand gerettet wurde. Auch die Kinder, die sich im Zug befunden hatten, waren umgekommen. Zwei im Zug, eines auf dem Bahndamm, zwei auf dem Weg ins Krankenhaus.

      Seitdem trug sie immer diese silberne Kette mit dem silbernen Hampelmann.

      Das sagte sie, und dann drückte sie meine Hand und schlief ein, den Kopf leicht zur Seite geneigt, und der Kopf mit dem silbernen, dauergewellten Haar vibrierte mit dem Körper des Flugzeugs, atmete mit den Geräuschen der Propeller, und so flogen wir, meine Großmutter, Frau Dresenkamp, die nervös eine Frauenzeitschrift durchblätterte, ohne zu lesen durchblätterte, nur um dann wieder, gleichfalls ohne zu lesen, von vorne anzufangen, und ich, über die Alpen, flogen etwas über das Mittelmeer und von dort nach Kroatien. Ich schaute aus dem Fenster und sah unter uns die Städte und Dörfer und die karstige Landschaft, kaum Grün, alles gelb und braun, dazwischen seltsame Wege, nicht Straßen, wie man sie kennt, die sich grau durchs Land schneiden, gewunden und verschlungen die Berge hocharbeiten, sondern schnurgerade Wege, durch die Berge, an Berghängen, alles erdig, nicht asphaltiert, scheinbar, von oben, aus der Propellermaschine heraus betrachtet, als