Stanislaw Przybyszewski: Romane, Erzählungen & Essays. Stanislaw Przybyszewski. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Stanislaw Przybyszewski
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027205639
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von Totengerippen erinnerte. Ihm wurde sehr unangenehm zu Mute.

      Lächerlich, daß diese idiotischen Fabeln, die das Volk um das Leben der Toten spinnt, auf sein Gehirn noch wirken konnten. Ja – nun, er war so nervös.

      Seine Gedanken verwirrten sich immer mehr. Nein, er war zu müde. Er konnte keinen einzigen Gedanken logisch zu Ende führen; wozu auch?

      Ja, wozu denn diese blödsinnige Logik? Das, was in seiner Seele tätig war, das hinter allem Bewußtsein lag und das er nicht kannte, das hatte ja doch eine eigene Logik, die so grundverschieden war von dieser dummen Bewußtseinslogik und sie über den Haufen warf.

      Vor ihm tauchten jetzt die weißen Mauern des Klosters auf; er blieb stehen und starrte sie an. Es war da drin doch eine sonderbare Poesie; er dachte an die grausigen Geschichten, die man ihm als Kind über die Zisterzienser, denen das Kloster vor Zeiten gehörte, so oft erzählt hatte.

      Ja, vorm Jahr kam sie auch aus einem Kloster; da war sie erzogen worden. Erzogen! Ha, ha, ha ...

      Falk wurde wütend.

      Die Klosterweiber haben sie zerstört! ja: Zerstört! Jetzt geht sie herum in den eisernen Wickelbanden! Jetzt hat sich ihre Seele in die Nabelschnur des Katholizismus verwickelt und erwürgt sich drin, das arme, mißgeborene Kind.

      Warum hat sie nicht den Willen: sieh hier, ich liebe Dich! nimm mich!

      Ja, ja, ja; wieder die blödsinnige Logik des Verstandes.

      Und doch: er werde stärker sein als alle ihre Religion. Er werde schon dies giftige Kraut der Christenmoral aus ihrer Phantasie ausjäten. Er werde sie zwingen; sie müsse ihm gehorchen. Er werde sie frei machen, ja frei; und sich auch.

      War er nicht ein Sklave? Ja, ein dummer Sklave seines Weibes, seines Gewissens, dummer alter Vorurteile, die jetzt wie Regenwürmer im Frühling aus ihren Löchern krochen und ihn peinigten ...

      O, sie werde schon sehen, wer mächtiger sei: Er oder der gekreuzigte Rabbi!

      Falk fühlte eine ungeheure Energie in seinem Gehirn anschwellen. Er beschleunigte seine Schritte. Schließlich lief er fast.

      In Schweiß gebadet kam er nach Hause.

      Seine Mutter erwartete ihn noch.

      – Aber gute, liebe, teure Mutter, warum bist du denn noch auf?

      – Ja, sie habe immer solche Angst, wenn er die Lampe auslösche. Es passiere so viel Unglück damit. Sie wolle es lieber allein tun.

      – Aber du kannst doch unmöglich eigens jeden Abend nach Paris kommen, um mir die Lampen auszublasen.

      – Nein, das wolle sie auch nicht. Schließlich habe er auch recht; aber die Mutter ...

      – Ja, ja ... die Mutter; das ist schön, eine Mutter zu haben.

      Falk küßte ihr beide Hände.

      – Übrigens, Mama, hast du etwas Cognac?

      – Ja, den habe sie schon. Aber wozu wolle er so viel trinken. Es sei doch schrecklich, sich daran zu gewöhnen. Ob er sich denn nicht an die Schäferfrau erinnere, die Delirium bekam.

      Falk lachte.

      – Nein, er wolle sich nicht gewöhnen; er habe nur etwas Fieber und möchte die Temperatur ein wenig herabsetzen.

      Die Mutter holte Cognac. Falk dachte inzwischen nach. Plötzlich erhob er sich; ein Entschluß zuckte durch sein Gehirn.

      – Ja, Mama; ich will dir etwas erzählen. Ich hab es dir so lange verheimlicht, aber schließlich fing es an mich zu quälen. Du mußt mir nur versprechen, mich ruhig anzuhören und nicht zu weinen.

      Falk trank ein Glas Cognac. Seine Mutter sah ihn ängstlich verwundert an.

      – Ja, das verspreche sie ihm.

      – Also, Mama; ich bin verheiratet.

      Die alte Frau saß einen Moment ganz starr; in ihren großen, klugen Augen blitzte ein Schreck auf.

      – Du, Erik, solchen Unsinn darfst du mit mir nicht treiben.

      – Das sei aber so sicher, wie er hier sitze. Er habe sich verheiratet, weil er das Mädchen, nein, es sei eine Dame aus vornehmer Familie – geliebt habe, und so seien sie aufs Standesamt gegangen und hätten einen Ehekontrakt gemacht.

      – Ohne Kirche?!

      – Ja freilich; wozu brauchten sie Kirche? Seine Ansichten kenne ja Mama, er habe sie niemals verborgen; übrigens sei seine Frau Lutheranerin.

      – Lutheranerin! Die alte Frau schlug die Hände zusammen und in ihre Augen traten große Tränen.

      Aber Falk nahm die Hände der alten Frau und küßte sie und sprach von seinem Glück und von der Schönheit und der Güte seiner Frau. Er sprach schnell, abgerissen; schließlich wußte er selbst nicht, was er sprach, aber die alte Frau wurde allmählich beruhigt.

      – Warum er ihr das nicht schon früher gesagt?

      – Wozu denn? Die Ehe habe für ihn keine religiöse Bedeutung; sie habe nur die Bedeutung eines geschäftlichen Vertrages, um die ökonomische Stellung der Frau zu sichern, und dann, ja, um die Polizei zufriedenzustellen.

      – Ob er denn mit seiner – das Wort wollte der Mutter nicht über die Lippen – seiner sogenannten Frau zusammenwohne?

      – Sogenannten?!

      Falk wurde sehr gereizt ...

      Freilich. Die Mutter müsse sich gewöhnen, staatliche Institutionen ebenso wie die kirchlichen zu respektieren. Übrigens bitte er sie innig darum, niemandem, absolut niemandem etwas davon zu erzählen; das möge er durchaus nicht. Er wolle keine Einmischung in seine Privat-Angelegenheiten; das würde er der Mama sehr übel nehmen.

      – Ja, das verspreche sie ihm bestimmt; schon in ihrem eigenen Interesse werde sie es nicht. Was würden die Menschen dazu sagen! Sie würde sich nicht auf der Straße blicken lassen dürfen ... eine Lutheranerin!

      – Ja, ja die Menschen! Nun aber muß sich Mama ins Bett legen; ich werde mit der Lampe so vorsichtig sein wie ein Hypochonder. Gute Nacht, Mama.

      – Gute Nacht, mein Kind.

      Jetzt fing Falk von neuem an zu überlegen. Er setzte sich. Sein Gehirn arbeitete mit ungewöhnlicher Lebendigkeit.

      Was trieb ihn eigentlich mit dieser furchtbaren Macht zu Marit?

      War es nur geschlechtliches Verlangen?

      Aber dann gab es tausend schönere Weiber. Er selbst hatte ja viel schönere Weiber gesehen; viele, die weit stärker seine sexuelle Sphäre hätten erregen müssen, als dies reine geschlechtstaube Kind.

      Ja, geschlechtstaub; das war der richtige Ausdruck.

      War es denn wirklich Liebe? eine Liebe, wie er sie zu seiner Frau empfand? wie er sie durch seine Frau erst kennen gelernt?

      Das war doch unmöglich.

      Falk erhob sich und ging im Zimmer auf und ab.

      Das mußte er sich doch endlich mal klar machen.

      Er bemühte sich, ganz, ganz reinlich zu denken.

      Mein Gott; er hatte schon so oft denselben Gedankengang durchdacht. Immer von neuem, immer mit neuen Argumenten, mit neuen psychologischen Subtilitäten.

      Ja, also! Erstens ...

      Er lachte herzlich auf. Er mußte an einen Schulkameraden denken, der immer, wonach man ihn auch fragen mochte, mit Erstens anfing, aber niemals über das Erstens hinauskommen konnte.

      Nein, Blödsinn!

      Ja, ja, damals, das erste Mal, als er Marit sah. Wie merkwürdig war doch diese Halluzination von Rosenduft und etwas ungeheuer Mystischem.

      Mit einer rasenden Schnelligkeit wickelte sich damals eine Erinnerung in seinem Gehirne ab, an die er früher niemals gedacht hatte.