Stanislaw Przybyszewski: Romane, Erzählungen & Essays. Stanislaw Przybyszewski. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Stanislaw Przybyszewski
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027205639
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wollte.

      Plötzlich an einem Sonntag – ja, es war wohl wieder frische Luft im Zimmer ... Er wachte auf. Seltsame Szenerie: Mikita im Hemde, den Türschlüssel in der Hand, Longinus aufs Höchste empört, zitternd vor Wut.

      – Mach die Tür auf! zischte Longinus mit theatralischem Pathos.

      – Leg das Buch wieder hin, dann werd ich Dir aufmachen.

      Longinus in Heldenpose mit großen Kothurnenschritten hin und her, hin und her.

      – Mach die Tür auf! brüllte er heiser.

      – Leg das Buch zurück.

      Longinus schäumte. Plötzlich kam er an Falk heran.

      – Du bist ein feiner, gebildeter Mann. Du kannst doch nicht leiden, daß ich in meinem Rechte nach irgend welcher Richtung hin beeinträchtigt werde.

      Ja, Longinus pflegte immer in sehr gewählter und wohlgesetzter Rede zu sprechen.

      – Ja, bedaure, Mikita hat den Schlüssel.

      Nun schritt Longinus feierlich an Mikitas Bett heran:

      – Ich spreche Dir jede Art Bildung ab.

      Das war das größte Schimpfwort, das er je ausgesprochen hatte.

      – Mach die Tür auf. Ich bin vergewaltigt und überlasse Dir das Buch.

      Gott! wie sie gelacht haben. Und es war Sonntag. Sie sollten eigentlich in der Kirche sein. Die Kirche hatten sie immer geschwänzt. Sie waren doch gar zu überzeugungstreue Atheisten.

      Aber gefährlich war es. Der fanatische Religionslehrer spionierte in der Kirche herum ...

      Ha, ha, ha.

      Falk dachte, wie er einmal in der Kirche seiner »Flamme« gegenübersaß – ja, er saß auf dem Katafalke, wollte recht graziös und interessant erscheinen und verharrte die ganze endlose Messe hindurch in einer recht unbequemen Stellung, in der er einmal Byron auf dem Grabe Shelleys abgebildet gesehen hatte.

      Gab das einen Skandal!

      Nun wollte er sich wieder zur Arbeit aufraffen, aber er konnte die Gedanken nicht sammeln. Das flog und schwirrte alles in seinem Gehirne herum um diese herrliche Zeit.

      Er kaute gedankenlos an dem Federhalter und wiederholte: War das eine herrliche Zeit!

      Wie sie plötzlich Ibsen entdeckt hatten, wie ihnen »Brand« den Kopf verdrehte.

      Alles geben oder Nichts! Ja, nun wurde das ihre Parole.

      Und sie suchten die Spelunken der Armen auf und scharten die Proletarierkinder um sich herum.

      Wieder sah sich Falk in der Mansarde.

      Fünf Uhr Morgens. Ein Gepolter von Holzschuhen auf den Treppen, als ob man eine Kanone nach oben schleppte.

      Dann wurde die Türe aufgemacht und nun im Gänsemarsch: ein Junge, ein Mädchen – zwei Jungen – zwei Mädchen, die ganze Stube voll.

      Alles am Ofen um den großen Eichentisch herum.

      – Mikita, steh auf! Ich bin wahnsinnig müde.

      Mikita fluchte.

      Er könne nicht aufstehen. Er habe die ganze Nacht an dem lateinischen Aufsatz gearbeitet.

      Mit einem Ruck waren sie beide auf, ganz wütend und haßerfüllt gegen einander.

      Das Zähneklappern in dieser Kälte!

      Und nun: er am Ofen, prustend und fluchend, weil das Holz kein Feuer fangen wollte, Mikita an dem großen Milchkessel, den er mit Spiritus erwärmte.

      Allmählich wurden sie weicher gestimmt.

      Die Kinder wie junge Raubtiere über die Milch und das Brot her – Mikita, von der Seite, strahlend, glücklich.

      Und dann: Kinder hinaus!

      Jetzt sahen sie sich regelmäßig freundlich an.

      Falk wurde es ganz warm ums Herz.

      Er hatte das längst vergessen. Es stak, weiß Gott, ein großer, schöner Inhalt da drin.

      Dann, gewöhnlich Scham, weil sie sich auf Sentimentalität – nein, Ästhetik nannten sie es – ertappen ließen, und schließlich Zank.

      – Nibelungenlied ist doch eigentlich ein leeres, dummes Gewäsch. Mikita kannte Falks schwache Seiten sehr gut.

      Das wollte er selbstverständlich nicht zugeben. Er disputierte mit unglaublichem Eifer und schnitt das Brot zum Frühstück.

      Mikita war schlau. Er verwickelte Falk immer in einen Disput und ließ sich das Brot schneiden, weil Falk im Eifer niemals merkte, wie beschwerlich es war.

      Und plötzlich: Herrgott, zwei Minuten über voll. Die Bücher zusammengerafft und in eiligstem Galopp in die Schule. Er voran, Mikita hinterdrein, humpelnd. – Ob er das Überbein jetzt kuriert hatte? Nun merkte Falk gewöhnlich, daß er hungrig war, Mikita hatte das ganze Brot aufgegessen – der herrliche Kerl.

      Dann ...

      Falk stockte.

      »Brand« aufs Erotische übertragen. Alles oder Nichts ...

      Er stockte wieder.

      Er hatte eigentlich Janinas ganze Zukunft zerstört. – Hm, warum sie nur von ihm nicht lassen konnte? Und wie er sie gequält hatte mit den Brandschen Forderungen und der Brandschen Härte.

      Ja, er mußte wohl eine Art Hypnose auf sie ausgeübt haben. Wie war es sonst möglich, daß sie von zu Hause weglief und ihm nachreiste?

      Unangenehm. Er hatte sie ja niemals geliebt. Er wollte ja nur zusehen, wie sich bei einem Mädchen die Liebe entwickelt. Ja, er wollte eine Biogenese der Liebe schreiben. Kein übler Gedanke für einen achtzehnjährigen Jungen. Nun, er hatte damals Büchner und das »triste cochon« Bourget gelesen.

      Er mußte sie doch mal besuchen.

      Nein lieber nicht. Wenn sie ihn nur vergessen könnte.

      Falk stand auf und ging gedankenvoll auf und ab.

      Es ist doch schändlich, sie immer von Neuem zu verführen und dann hinterdrein sich auf einen überlegenen Standpunkt zu stellen und klar zu machen, daß Liebe überwunden werden muß, daß sie ein rudimentäres Gefühl sei, eine Art pathologischen Ausschlags in dem Geistesleben des modernen Menschen.

      Ja, darin war er unvergleichlich.

      Wenn sie nur ein bißchen froher werden möchte.

      Er hörte sie, wie sie ihm auf seine höhnenden Erklärungen antwortete:

      – Ich würde Dir nur das eine wünschen, daß Du Dich einmal verliebst ...

      Wie naiv sie war. Nein – nein ...

      Liebe?! – Hm ...Was war das eigentlich?

      Der alte Herr in Königsberg, der hat es durchschaut. Liebe ist doch wohl sicher eine krankhafte Äußerung ... Ja, er mußte es wissen.

      Er zündete sich eine Zigarette an und legte sich lang hin aufs Sofa.

      Was Mikita jetzt wohl malte?

      Es war doch eine unglaubliche Kraft in dem Menschen. Sich so mühsam durchzuringen und nicht einen Strich vom Wege abzulenken.

      Jetzt hätte er schon reich werden können, wenn er es wie die Andren machen wollte.

      Diese schreckliche Zeit auf der Universität.

      – Hast Du zehn Pfennig, Mikita?

      Mikita hatte nichts, er hatte den ganzen Morgen alle Sachen durcheinandergeworfen in rastlosem Suchen nach dem 10 Pfennigstück, das sich doch irgendwo verkrochen haben mußte.

      – So werden wir hungern.

      – Allerdings. Mikita ließ sich in seiner Arbeit nicht stören. Du – übrigens ist