»Aber ich habe doch so viele Freunde, Mutti.«
»Dummerchen, du weißt gar nicht, was Freundschaft ist, dazu bist du noch viel zu klein.«
»Oh, Mutti, ich weiß, was Freundschaft ist! Wenn man jemanden sehr lieb hat und ihm immerfort eine Freude machen möchte. Wenn man immerfort mit ihm spielen möchte. – Der Harras ist mein Freund!«
»Der Harras ist doch ein Hund, Pucki.«
»Man kann doch auch einen Hund zum Freund haben! Der Onkel Oberförster hat neulich gesagt, der Greif sei sein bester Freund. Der Greif ist doch auch ein Hund.«
»Gewiß, mein Kind, man kann auch mit Tieren Freundschaft schließen.«
»Und Peter, unser lieber Kater, ist auch mein Freund, und die süßen Zicklein und das rosa Schweinchen und dann alle die Piepvöglein im Walde auch. Du, Mutti, die kennen mich, sie wissen ganz genau, daß sie meine Freunde sind.«
»Gewiß, Pucki, so lange du noch ein kleines Mädchen bist, ist es lieb von dir, alle Tiere zu guten Freunden zu haben. Doch wenn du groß geworden bist, sind die Tiere alle längst gestorben, oder du denkst nicht mehr an sie. Eine Freundschaft soll aber das ganze Leben hindurch dauern. Freunde sollen bis ins hohe Alter zusammenhalten, sollen Freud und Leid miteinander teilen, sollen sich beistehen – –«
»So mache ich das auch mit Harras.«
»Gewiß, mein Kind, doch wenn man von Freundschaft spricht, denkt man zuerst an die Menschen.«
»Ach, da habe ich noch viel mehr Freunde! Der Paul, der Walter und der Fritz Niepel. – Den Paul kann ich freilich nicht recht leiden, er ist zu frech!«
»Dann ist er auch nicht dein Freund. Freunde hat man sehr gern.«
»Na, dann ist der Paul eben nicht mein Freund, aber die Rose Scheele und der Oberförster Gregor und sein Junge, der große Claus! Ach, Mutti, der ist mein allerbester Freund, mit dem will ich auch Not teilen, wie du eben gesagt hast. – Ach ja«, sagte sie nachdenklich, »der große Claus ist mein allerbester Freund. – Sag mal, Mutti, hast du auch einen Freund?«
»Einen Freund habe ich nicht, Pucki, aber eine sehr liebe Freundin, mit der deine Mutti regelmäßig Briefe wechselt. Alles, was sie erlebt, erfahre ich, und sie weiß wieder, was im Forsthause vorgeht. Wir haben uns schon in der Schule sehr lieb gehabt.«
»Und jetzt ist sie alt?«
»Genau so alt wie deine Mutti.«
Pucki legte die Arme um den Hals der Försterin. »Mutti, hast du die Freundin lieber als mich?«
»Kleines Schäfchen, du bist doch mein Töchterchen, eine Mutti hat zu allererst ihre Kinder lieb.«
»Hast du mich auch lieb?« fragte Waltraut, kam angelaufen und stieß Pucki ziemlich unsanft zur Seite.
»Gehste weg!« schrie Pucki. »Du kannst ja noch nicht mal lesen und schreiben. Ich bin auch schon viel länger bei der Mutti als du! – Nicht wahr, Mutti, deswegen hast du mich auch lieber?«
»Nein, Pucki, ich habe euch alle drei ganz gleich lieb.«
Pucki zog die Nase kraus. »Auch den kleinen Knubbel, der im Wagen liegt und immer schreit?«
»Ja, Pucki! Ihr seid meine drei lieben Mädchen. Alle drei sind mir ganz gleich lieb, das merke dir.«
»Ich bin aber schon am längsten bei dir, Mutti. Und wenn du uns jeden Tag lieb hast, habe ich die meisten Tage deine Liebe bekommen! Ätsch, Waltraut, mich hat die Mutti doch lieber!«
Der Streit, der wieder auszubrechen drohte, wurde von Frau Sandler rasch geschlichtet. Sie wußte, ihre beiden Kinder waren recht lebhafte Mädchen, die sich jedoch herzlich liebten. Vor drei Monaten war noch ein drittes Mädchen ins Sandlersche Haus gekommen, das den Namen Agnes erhalten hatte.
»Ist gut so«, sagte Pucki, »bei Niepels sind ja auch drei Jungen, da hat jetzt jeder eine Freundin.«
Die Drillinge von dem Gut, das kaum zwanzig Minuten von dem Forsthause entfernt war, weilten oft auf Besuch bei Sandlers, und ebenso oft waren Hedi und Waltraut dort eingeladen. Die Drillinge waren zwar zwei Jahre älter als die Sandlersche Älteste, doch die beiden kleinen Mädchen fanden, daß es sehr fröhlich war, mit ihnen zu spielen, in den Ställen herumzulaufen oder auf dem Gutshofe allerlei lustige Spiele zu treiben. –
Lange dauerte die friedliche Stimmung zwischen den beiden Schwestern aber nicht.
»Ich habe viel mehr Freunde als du«, sagte Pucki zu Waldi. »Ich habe noch den Fritz Lange, den Georg Rabe und den Kuno Meister. Ach nein, den mag ich nicht leiden, aber die Thusnelda, die Marie, die Grete und alle anderen aus der Schule, alle sind meine Freunde. – Ätsch, so viele hast du nicht!«
»Die Waldi hat auch viele Freunde!« meinte die kleine Schwester dagegen.
»Aber ich habe tausend!«
»Und ich habe sieben!«
»Hahaha«, lachte Pucki und spreizte die Fingerchen. »Sieh mal, das sind sieben! Aber tausend! Tausend ist so groß wie die ganze Welt!« Sie umschrieb mit beiden Armen einen Kreis. »Das sind tausend Freunde. Aber du – o je, nur sieben! Das ist ja nur bis zu meinem Zeigefinger von der anderen Hand.«
»Sieben ist viel mehr als tausend«, stritt Waldi.
Pucki schrie fast vor Lachen. »Komm du nur erst in die Schule, dann wird man dir schon sagen, was tausend ist! – Na, ich habe eben tausend Freunde!«
»Du sollst nicht so übertreiben«, mahnte die Mutter. »Tausend Löcher hat dir die Mutti schon gestopft, die du in die Strümpfe gerissen hast. – Tausend Freunde hat kein Mensch, Pucki.«
»Du auch nicht, Mutti?«
»Nein, mein Kind, ich sagte dir schon, daß ich nur noch eine einzige Freundin habe. Sie ist mir daher sehr ans Herz gewachsen. Alle anderen Freundschaften aus der Schulzeit sind entschwunden. Und doch haben wir uns damals in allen Klassen ewige Freundschaft zugeschworen. Deine Mutti hat sogar noch ein Poesiealbum mit vielen Versen von Liebe und Freundschaft.«
»Was ist das für ein Album, Mutti?«
»Wenn du erst größer geworden bist, mein Kind, bekommst du auch solch ein Album. Es ist später eine sehr liebe Erinnerung an die Schulkameradinnen.«
»Ach, Mutti, ich möchte gern mal das Album sehen!«
»Pucki, denke an deine Schularbeiten und an das Lesezeichen für den Vater.«
Hedi sprang auf den Schoß der Mutter, legte schmeichelnd ihren Kopf an deren Schultern und sah sie mit ihren blauen Augen so bittend an, daß Frau Sandler lächeln mußte.
»Mutti, nachher sticke ich auch so schnell wie die Minna, ach, noch viel schneller! Ich werde mir auch vom Fritz beim Rechnen nicht helfen lassen, aber – zeige mir das Album.«
»Dann komm, Pucki.«
Frau Sandler ging zum Schreibtisch, schloß einen der Schübe auf und entnahm ihm ein kleines braunes Buch, das auf dem Deckel in großen goldenen Buchstaben das Wort »Poesiealbum« trug. Pucki buchstabierte angestrengt an diesem Wort herum.
»Ein schönes Buch – aber ein schweres Wort. – Mutti, was steht nun drin?«
Frau Sandler schlug die Seiten auf. Überall waren Verse niedergeschrieben, auf den gegenüberliegenden Seiten klebten bunte Bilder.
»Ist das eine schöne Poesie!«
»Das sind Verse von Mädchen, die einst mit mir in die Schule gingen«, erklärte Frau Sandler. »Sie wünschten mir Gutes fürs spätere Leben. Sieh her, Pucki, dieser Vers stammt von meiner Freundin Erika, an die ich heute noch Briefe schreibe.«
»Lies mal, Mutti!«
»Nein, Pucki, sei nicht so bequem, lies doch selbst.«
»Sehr