»Du kränkst dich doch nicht etwa, weil ich eine Doppelgängerin habe?« fragte Mirja.
Mirja Rickmann, dröhnte es in seinen Ohren.
»Ach, dieser Mann wollte nur etwas von dir!« stieß er hervor.
»Das glaube ich nicht, Papa. Lars sagte es auch, aber er macht einen sehr seriösen Eindruck, und er ist glücklich verheiratet, das hat er selber gesagt. Armer Papa, du bist genauso verstört wie Lars. Aber so schlimm ist das doch nicht.«
»Nein, so schlimm ist es nicht«, sagte er und dachte, daß sie eine Anna Rickmann auf dem Gut gehabt hatten. Aber ihm selbst gab dieses Wissen auch keine Erleuchtung.
*
Mirja Rickmann, die andere Mirja, die nichts von ihrer Doppelgängerin wußte, blieb bis gegen zwei Uhr an Benedikt Arnolds Bett sitzen.
Am liebsten hätte sie ihm ihren Atem eingehaucht. Sie wäre für ihn gestorben, wenn sie das selbst hätte bestimmen können.
»Du mußt leben, Benedikt«, flüsterte sie.
»Mirja.«
Wie ein Hauch kam es über seine Lippen. Sie konnte es nicht glauben, daß er selbst es gesagt hatte.
»Ja, Liebster?« Sie beugte sich ganz dicht über ihn. Ihre Lippen berührten seine Wange. »Der Koffer… Du mußt den Koffer gut aufbewahren.«
Wußte er, was er sagte, oder träumte er?
»Ich bewahre ihn für dich auf«, erwiderte sie.
»Irene – nimm dich in acht.« Seine Lippen preßten sich wieder aufeinander.
Galt diese Warnung nun Irene oder ihr? Wenn sie doch nur wüßte, welche Rolle diese Frau in Benedikts Leben spielte. Sie war seine Schwägerin. Also logischerweise die Frau seines Bruders.
Benedikt atmete jetzt gleichmäßig. Schwester Sophie kam.
»Sie müssen jetzt aber wirklich schlafen, Frau Rickmann«, sagte sie.
»Ja«, erwiderte Mirja müde. Und dann erinnerte sie sich plötzlich daran, daß man Schwester Sophie nachsagte, daß sie alles über den gesellschaftlichen Klatsch wüßte.
»Schwester Sophie, eine Frage! Sie lesen doch ausführlich die Zeitungen. Haben Sie eigentlich auch mal etwas über Benedikt Arnolds Bruder gelesen?«
Mirja wunderte sich selbst, daß sie den Mut zu dieser Frage aufgebracht hatte.
»Freilich«, erwiderte Schwester Sophie unbefangen. »Lang und breit haben sie doch darüber geschrieben, daß er bei dem Flugzeugunglück ums Leben gekommen ist. In Australien war es. Die beiden Brüder saßen in der Privatmaschine, und so ein Ingenieur von einem Bergwerk. Das weiß ich nicht mehr genau. Aber Jürgen – ja, Jürgen Arnold hieß er –, der ist ums Leben gekommen, sein Bruder war schwer verletzt und der andere nur leicht. Das müßten Sie doch eigentlich besser wissen als ich, Frau Rickmann«, sagte Schwester Sophie naiv.
»Nein, ich weiß gar nichts«, erwiderte Mirja ehrlich und dankbar, etwas erfahren zu haben. »Ich kenne Herrn Arnold nur flüchtig.«
Schwester Sophie lächelte verständnisinnig. »Aber Sie mögen ihn«, sagte sie.
»Ja, ich mag ihn.«
»Er muß ja auch ein sehr netter Mensch sein. Wissen Sie denn nicht, daß seine Schwägerin einen Prozeß gegen ihn führt, weil sie ihm die Schuld an dem Unglück zuschieben will?«
Mirja erschrak. »Ich lese so selten Zeitungen«, erwiderte sie gepreßt.
»Bei den reichen Leuten geht alles unterlängs über die Bühne. Und glauben soll man auch nicht alles. Aber wie ich ein Bild gesehen habe von dieser Irene Arnold, da habe ich mir gleich gedacht, daß man sich vor der in acht nehmen muß. Wie eine Katze sieht sie aus.«
Das war Schwester Sophies Ansicht, aber sie war sehr aufschlußreich.
»Und dieser Ingenieur, der beschuldigt Benedikt Arnold auch«, sagte Schwester Sophie. »Ich muß die Illustrierte noch irgendwo haben. Soll ich mal nachschauen, ob ich sie noch finde, Frau Rickmann?«
»Ja, dafür wäre ich Ihnen sehr dankbar«, sagte Mirja. »Sie schauen doch immer nach Herrn Arnold, Schwester Sophie?«
»Dazu bin ich doch hier«, erwiderte die Ältere mit einem Lächeln. »Ruhen Sie sich nur aus. Ganz schmal sind Sie schon geworden.«
Sie war mitteilsam, aber auch voller Gemüt. Mirja legte ihre Hand an ihre Wange.
»Sie sind sehr nett, Schwester Sophie«, sagte sie weich. »Bitte, behalten Sie für sich, worüber wir eben gesprochen haben.«
»Darauf können Sie sich verlassen, Frau Rickmann.« Und man wollte es ihr glauben!
*
Die Natur forderte ihr Recht. In ihrer Wohnung angekommen, sank Mirja bald in einen tiefen Schlaf, der erst gegen Morgen von Träumen bewegt wurde, die sie in der Erinnerung behielt.
Und seltsamerweise träumte sie nicht von Benedikt, sondern von ihrer Mutter.
Als sie erwachte, waren ihr diese Träume noch nicht gegenwärtig. Sie wurden ihr erst bewußt, als sie Benedikts Aktenkoffer gewahrte, den sie auf einen Stuhl gestellt hatte und sicher verschließen wollte, bevor sie das Haus verließ.
Das Zimmer ihrer Mutter war unverändert geblieben seit deren Tod. In ihm stand ein schwerer Eichenschrank, der schon antiquarischen Wert hatte. Er war handgeschnitzt, und das Schlüsselloch war von einem verschiebbaren Blatt verdeckt. Man konnte es nicht finden, wenn man nicht ungefähr die Stelle wußte.
Mirja kannte sie. Ihre Mutter hatte sie ihr gezeigt, aber sie hatte nie Gebrauch davon gemacht. Doch jetzt erschien ihr dies als der geeignete Platz, um Benedikts Koffer sicher zu wissen.
Leicht drehte sich der Schlüssel im Schloß, den sie sorgfältig in einer kleinen Schmuckkassette aufbewahrt hatte.
Mirja öffnete die Tür und stellte den Koffer in ein Fach, und wie von ungefähr fiel ihr Blick auf einen dicken vergilbten Umschlag, den sie nie gesehen hatte.
›Nach meinem Tod zu öffnen!‹ stand darauf, in der akkuraten, wenn auch etwas ungelenken Schrift ihrer Mutter.
Der Traum war deutlich. Ihre Mutter hatte sie zu diesem Schrank geführt.
Mirja war nicht fähig, diesen Umschlag herauszunehmen. Sie sah ihn an, aber er war für sie nicht existent. Nur der Traum war in ihrer Erinnerung. Und Benedikts Koffer war Wirklichkeit.
*
Dr. Laurin war an diesem Morgen recht schweigsam, wie Antonia feststellen mußte. Er scherzte auch nicht wie sonst mit den Zwillingen Konstantin und Kaja. Die wenigen Stunden, die ihm für die Familie blieben, reichten ihm im allgemeinen, um sich von den Gedanken an die Arbeit zu befreien, doch heute stand ihm eine schwierige Operation bevor.
»Meinst du, daß ich mich mal um Mirja kümmern sollte, Leon?« fragte Antonia, da sie meinte, dies beschäftige ihn.
»Ihre Zeit wird voll ausgelastet sein«, erwiderte er. »Hopp, hopp, Kinder, Papi muß in die Klinik.«
»Jetzt schon?« maulte Konstantin. »Ist doch noch so früh.«
»Mußte operieren?« fragte Kaja eifrig.
»Ja.«
Das ist es also, dachte Antonia. Es ist eine Operation, die ihn beschäftigt.
Sie sah ihn fragend an.
»Kommst du wieder spät nach Hause?« wollte Konstantin wissen.
»Papi dableiben!« brüllte Kevin aus dem Kinderzimmer. »Kevin will auch Papi haben.«
Antonia ging schnell zu ihm, denn in seiner Hast