»Thiersch!« antwortete eine herrische Stimme.
»Herr Professor«, entgegnete Dr. Daniel überrascht. »Was verschafft mir das Vergnügen?«
»Es ist nie ein Vergnügen, wenn ich anrufe«, entgegnete Professor Thiersch trocken. »Es geht um Leandra Krenn.«
Wieder ließ der Vorname etwas in Dr. Daniel anklingen, doch auch diesmal konnte er es nicht greifen.
»Schütz«, berichtigte er daher nur. »Sie ist jetzt verheiratet.«
»Dann war sie also bei Ihnen.« Der Professor atmete hörbar auf, was Dr. Daniel wiederum erstaunte. Normalerweise ließ sich Professor Thiersch nämlich nicht anmerken, wie sehr er am Schicksal seiner Patienten Anteil nahm. Er gab sich ganz bewußt streng und oftmals sogar ziemlich grob, um nur ja nicht zuviel von sich preiszugeben. »Was sagen Sie zu der Geschichte, Daniel?«
»Ich muß gestehen, die junge Frau hat mich sehr beeindruckt«, erklärte der Arzt. »Sie war heute früh bei mir in der Praxis. Sie will unter allen Umständen ein Kind haben.«
»Ich weiß. Wie stehen Ihrer Meinung nach die Chancen, daß es klappt?«
»Schlecht«, gestand Dr. Daniel rundheraus. »Eine so schwere Krankheit bedeutet für die Patientin eine außerordentliche Streßsituation, noch dazu, wenn sie weiß, daß die Krankheit innerhalb eines begrenzten Zeitraums zum Tod führt. Ich nehme nicht an, daß es bei Frau Schütz zum Eisprung kommt.« Er schwieg einen Moment, dann erkundigte er sich: »Herr Professor, wie groß wären die Heilungschancen für Frau Schütz bei einer Behandlung mit Zytostatika?«
Professor Thiersch antwortete mit einer Gegenfrage. »Haben Sie meinen Bericht gelesen?«
»Ja.«
»Na also, dann kennen Sie ja die Antwort.«
Dr. Daniel seufzte leise auf. »Sie hat also recht. Es wäre nur ein Hinauszögern des Todes.«
»Hören Sie, Daniel, Sie kennen die Sachlage und wissen so gut wie ich, daß das Mädchen nur eine Chance hätte, wenn wir eine Knochenmarktransplantation machen könnten. Aber dazu brauchen wir die Mutter oder noch besser Geschwister des Mädchens. Und selbst dann würde ein Restrisiko bestehen.« Der Professor seufzte. »Ich habe sogar die Adoptiveltern kommen lassen, weil ich hoffte, sie wüßten etwas über die leibliche Mutter des Mädchens… Fehlanzeige! Ein entfernter Verwandter hat die Adoption geleitet, weil die Mutter unter allen Umständen anonym bleiben wollte. Das einzige, was die Krenns wußten, daß es sich um irgendeine Adlige gehandelt haben muß.«
In diesem Moment fiel bei Dr. Daniel der sprichwörtliche Groschen. Er schlug sich mit der Hand gegen die Stirn.
»Leandra! Natürlich!«
»Wie bitte?« dröhnte Professor Thierschs Stimme an sein Ohr. »Haben Sie den Verstand verloren, Daniel?«
»Nein, Herr Professor, aber ich weiß, wer die Mutter von Frau Schütz ist.« Er holte weiter aus. »Vor fast neunzehn Jahren habe ich hier in Steinhausen meine Praxis eröffnet. Ich hatte gerade meinen Frauenarzt in der Tasche und daher ein wenig Mühe, als niedergelassener Arzt Fuß zu fassen. Meine Praxis lief also mehr schlecht als recht, und als ich eines Nachts in das knapp zwanzig Kilometer entfernte Schloß Hoheneck gerufen wurde, war ich mehr als erstaunt. Doch das hatte einen guten Grund. Das Fürstenpaar wollte einen jungen, möglichst unerfahrenen Arzt, der über die Vorkommnisse auf dem Schloß Stillschweigen bewahrte. Die Haltung des Fürsten schüchterte mich auch tatsächlich ein. Ich war zweiunddreißig und hatte noch nie im Leben mit Adligen zu tun gehabt.«
»Würden Sie jetzt endlich zur Sache kommen?« fiel Professor Thiersch ihm unwillig ins Wort. »Ansonsten können Sie auch bei Adam und Eva anfangen.«
»Entschuldigen Sie, Herr Professor. Da ist wohl die Erinnerung mit mir durchgegangen. Also, die junge Prinzessin… lassen Sie mich überlegen… Prinzessin Alix, ja, Prinzessin Alix lag in den Wehen. Sie hatte eine Affäre mit einem jungen Burschen gehabt und war schwanger geworden. Jetzt sollte das Baby geboren und dann sofort zur Adoption freigegeben werden. Passende Adoptiveltern hatte der Fürst bereits ausfindig machen lassen. Dann kam für alle Beteiligten der große Schock. Prinzessin Alix bekam Zwillinge – ein Mädchen und einen Jungen.«
»Soll das heißen…, Leandra Krenn hat einen Bruder?« brachte Prof. Thiersch mühsam hervor.
Dr. Daniel nickte, als könnte der Professor das sehen. »So ist es. Die Prinzessin hat es sich nicht nehmen lassen, ihren Kindern Namen zu geben. Das Mädchen sollte Leandra heißen, und der Junge Ahilleas.«
»Mir scheint, die junge Dame hatte eine Schwäche für Griechenland«, warf der Professor ein wenig bissig dazwischen.
»Der Vater der Kinder war Grieche. Sie hat ihn während eines Aufenthalts auf Kreta kennengelernt.«
»Sie sind ja bestens informiert«, stellte der Professor trocken fest.
Dr. Daniel senkte den Kopf. Nur zu gut erinnerte er sich noch an die junge Prinzessin, die so verzweifelt gewesen war, weil sie ihre Kinder hatte weggeben müssen.
»Die Prinzessin hat sich mir anvertraut«, gestand er. »Sie wollte wissen, was aus ihren Kindern wurde und bat mich, sie auf dem Laufenden zu halten. Doch dem wurde bald ein Riegel vorgeschoben. Noch ehe ich das Schloß verlassen konnte, wurden die Kinder bereits weggebracht. Eine Woche später war auch die Prinzessin verschwunden, und jeder hüllte sich über ihren Verbleib in Stillschweigen.«
Der Professor seufzte. »Das heißt, daß wir jetzt zwar wissen, wer die Mutter des Mädchens ist, und daß diese Leandra sogar einen Zwillingsbruder hat, aber dennoch haben wir keine Ahnung, wo wir anfangen sollen zu suchen.«
»So ähnlich ist es, ja.« Dr. Daniel schwieg einen Moment, dann setzte er mit Entschlossenheit hinzu: »Aber ich werde nichts unversucht lassen, um wenigstens einen der beiden zu finden.«
*
Gleich am Tag nach Leandras Besuch in Dr. Daniels Praxis hatte der Arzt versucht, sie und ihren Mann noch im »Goldenen Löwen« zu erreichen, doch das junge Ehepaar war bereits abgereist – mit unbekanntem Ziel. Dr. Daniel war enttäuscht, hoffte aber, daß Leandra ihr Versprechen halten und wieder zu ihm kommen würde. Währenddessen wollte er versuchen, etwas über ihre Mutter und ihren Bruder herauszubekommen.
Dazu benutzte er das folgende Wochenende. Sein erster Weg führte ihn nach Schloß Hoheneck. Er wußte, daß hier noch immer Fürst Bernhard regierte – mit harter, unnachgiebiger Hand, wie er es schon damals getan hatte. Und wie vor achtzehn Jahren hatte Dr. Daniel auch heute ein wenig Hemmungen, den goldenen Türklopfer zu betätigen.
Der Butler öffnete und fragte nach seinen Wünschen.
»Ich möchte Seine Durchlaucht bitte sprechen«, verlangte Dr. Daniel in höflichem, aber bestimmtem Ton.
»Sind Sie angemeldet?« entgegnete der Butler ungerührt.
»Nein, aber es ist außerordentlich wichtig. Es geht um Prinzessin Alix.«
Dr. Daniel sah, wie der Butler förmlich erstarrte. Der Name der jüngsten Tochter war hier offensichtlich noch immer verpönt. Mit einer knappen Entschuldigung entfernte sich der Butler, kam aber wenig später zurück und führte Dr. Daniel in einen weitläufigen Salon. Es dauerte nur einen Augenblick, bis Fürst Bernhard eintrat und seinen Besucher mit kalten Augen musterte.
»Ach, Sie sind’s«, erklärte er. »Wollen Sie jetzt noch Forderungen stellen? Mich erpressen?«
Dr. Daniel schüttelte den Kopf. »Wenn ich das gewollt hätte, wäre ich früher gekommen. Nein, Durchlaucht, es geht nicht um Geld, es geht um Ihre Enkelin Leandra. Sie erinnern sich? Das kleine Mädchen, das Ihre Tochter Alix geboren hat. Fünf Minuten später kam auch der Bub zur Welt – Ahilleas.«
Mit jedem Wort, das Dr. Daniel gesprochen hatte, hatte sich das Gesicht des Fürsten weiter verfinstert.