Oder sollte sie sich an den Gedanken gewöhnen, zukünftig in Irma Osterloh eine beste Freundin zu sehen? Die war sechzig und gab eine Unmenge Geld aus, um wie eine jugendliche Vierzigerin zu wirken. Das war leider anstrengend!
»Wird höchste Zeit, dass sie Enkel bekommt!«, entschied Marie und sprang aus dem Bett.
Eine Stunde später hatte sie mit Wilma in der großen Küche gefrühstückt, um dabei mit ihr den Speiseplan für den Rest der Woche zu besprechen. Marie liebte diese Stunden mit Wilma, denn beide verband seit Jahrzehnten mehr als Zuneigung.
Dass Wilma sie seit ihrer Hochzeit Baronin nannte, konnte nichts daran ändern.
»Wilma …, ich find’ meine Autoschlüssel nicht!«, rief Marie wie ein Kind vom Flur in die Küche. »Haben Sie sie gesehen? Ich bin sicher, sie lagen hier auf dem Bord!«
Sie schaute in die Küche, wo Wilma einen Stapel Küchentücher glättete. »Dany, Baronin!«, erwiderte sie kurz.
»Dany …?«
»Ja, gestern hat er sich schon die Schlüssel vom Baron geschnappt. Er sollte sie wirklich an den Haken hängen! Sag’ ich es nicht oft genug? Jetzt hat Dany sie wohl in der Anoraktasche. Und der Anorak hängt im Kindergarten.«
»Ach, Wilma! Was soll ich denn nun tun? Frau Osterloh …«
»… kann nicht warten, wenn sie zum Friseur muss. Ich weiß. Aber schauen Sie doch im Schreibtisch des Barons nach. Da liegen einige Ersatzschlüssel. Der für Ihren Wagen ist bestimmt auch dabei.«
»Danke, Wilma.«
Während Marie aus dem vorderen Teil und durch die Halle eilte, schloss sie schon den Gürtel ihres Trenchcoats. Sie hatte Irma Osterloh fest zugesagt, pünktlich zu sein. Das Büro des Weißenberg-Hofs bestand aus zwei Räumen. Im vorderen hatten sie und die Sekretärin Platz.«
»Guten Morgen, Baronin.«
»Guten Morgen, Frau Hämmerle.«
Sie huschte an Frau Hämmerle vorbei in Stefans Büro. Der vertraute Duft seines Pfeifentabaks schlug ihr entgegen, und sie öffnete das Fenster. Wenn Stefan hier bei seinen Gesprächsrunden saß, stopfte er sich gern heimlich ein Pfeifchen. Er wusste, wie wenig ihr das gefiel. Marie lächelte. Andere Unarten hatte er ja nicht.
Sie zog eine Lade seines Tisches auf und dann noch eine. In der zweiten lagen mindestens acht Schlüsselbunde. Sie musste nur noch heraussuchen, welcher davon zu ihrem Wagen passte.
Unter einem Blatt Papier entdeckte sie den richtigen. Nein, sie irrte sich nicht. Mit dem konnte sie losfahren. Sie wollte das Blatt Papier wieder zurücklegen, als ein Teil davon umbog und sie den Namen ›Anette‹ darauf entdeckte. Er war sehr flüchtig hingekritzelt, aber unterstrichen worden.
Marie stutzte erst recht, als sie das Blatt auseinanderfaltete und zweifellos Stefans Schrift erkannte. Mehrmals glitt ihr Blick über die seltsame Reihe von Eigenschaften. Was mochte das sein?
»… wunderhübsch, zärtlich, hingebungsvoll, groß- und warmherzig, gebildet, kuliviert, interessiert an Musik und ernsten Gesprächen, an Reisen, besonders in die südliche Sonne …«
Sie hielt den Atem an. Traf das alles auf Anette zu? Nun ja, sie war hübsch – aber wunderhübsch? Und woher wusste ausgerechnet Stefan, dass sie zärtlich und hingebungsvoll war? Ein unangenehmes Gefühl beschlich sie. Bedeutete Anette ihm so viel, dass er ihre guten Seiten auf einem Blatt Papier verewigte – wie in einem Poesie-Album, dem man seine geheimsten Wünsche anvertraute? Und ihre engste Freundin Anette? Fehlte ihr vielleicht die Zeit für den Chor und die gemeinsamen Stunden, weil sie ebenfalls aufschrieb, was ihr während geheimer Treffen an Stefan besonders gut gefiel?
Maries Ohren wurden heiß. Als sie an Frau Hämmerle vorbei aus dem Büro eilte, presste sie den Autoschlüssel in ihrer Faust, bis es schmerzte. Erst im riesigen Kaminzimmer blieb sie stehen. Plötzlich sah sie den herrlichen Raum mit ihrem Stützengel mit anderen Augen. Er war das Zentrum des Weißenberg-Hofs und ihres glücklichen Familienlebens. Wer wusste noch, dass er früher mal ein Stall gewesen war? Wer ließ sie nicht von der schlichten Eleganz der sparsamen Möblierung beeindrucken?! Konnte es sein, dass Anette sie seit Jahren darum beneidete und nun ihre Ehe bedrohte? Und zog sie sich deshalb von ihr zurück?
Wie weh dieser Gedanke tat? Marie rannte über den Hof, setzte sich in ihren Wagen und ließ den Motor an.
Bevor sie losfuhr, rief sie Irma Osterloh an, um ihr bedauernd beizubringen, dass sie heute wichtige Angelegenheiten zu erledigen habe und die Brauerei-Besitzerin nicht zum Friseur begleiten könne. Irma schien ziemlich beleidigt zu sein, aber das glitt an Marie ab. Jetzt ging es um mehr als um Irmas Frisör-Termin. Es ging um ihre Liebe zu Stefan, um ihre Ehe und um ihr Verhältnis zu Anette, die ihr zur erbitterten Rivalin geworden war, aber niemals über sie triumphieren durfte!
Sie fuhr den Hügel hinab. Die aufgeweichte Erde spritzte gegen die Windschutzscheibe, dazu blendete sie die Sonne. Der Scheibenwischer verschmierte den Schmutz und als Wasser über die Scheibe sprühte und sie wieder klar vorausblicken konnte, wusste Marie mit einem Mal, wie tiefgreifend sich ihr Leben binnen Sekunden verändert hatte.
Sie lenkte den Wagen von der Landstraße auf einen Weg, der zum Wald führte. Und dort am Rand, wo die Sonne nur spärlich durch die noch kahlen Äste fiel, parkte sie. Sie umfasste das Lenkrad, schloss die Augen und legte die Stirn auf ihre Hände.
Was konnte sie tun? Was war in letzter Nacht geschehen? Waren ihr Leben und ihre Gefühle schon so eingefahren, dass sie die letzte Nacht mit Stefan schon als etwas ganz besonders Beglückendes wahrgenommen hatte, obwohl sein Begehren gar nicht mehr echt war? Und wenn er ihr etwas vormachte, war das auch ihre Schuld? Fühlte sie sich als Baronin zu geachtet und vergaß ganz, aus welchen Nöten Stefan sie damals gerettet hatte? Glaubte er, sie habe ihn wegen seines Erbes und seines Namens geheiratet, weil sie so den heruntergekommenen Hof ihrer Eltern erhalten konnte? Oder vermisste er Beweise ihrer Dankbarkeit, während sie ihr Glück seit Jahren als Selbstverständlichkeit ansah?
Und Stefan? Vernachlässigte sie den Mann, der ihr alles bedeutete? Empfand er das so? Sollte sie ihn fragen? Aber was, wenn er sich in Ausreden flüchtete? Dann musste sie ihn verachten. Ihn, den Vater ihrer Kinder, den Baron und Ehrenmann! Das konnte sie doch nicht. Eher konnte sie sich selbst hassen.
Und wenn sie Anette zur Rede stellte? Ein Gespräch, in dem es um ihre Ehe ging?! Unmöglich! Sie war die Tochter des angesehenen, aber verstorbenen Bauern Traublinger! Eine Tochter des Bauern Traublinger klagte nicht – was auch geschah! Und hatte es eine Baronin Weißenberg, die überall geschätzt und als Mutter und ehrenamtliche Chorleiterin angesehen war, etwa nötig, eine andere Frau anzuflehen, ihr den Ehemann zu lassen?!
Sie kurbelte das Fenster herunter. Die Finken jubilierten mit den ersten Staren in den Bäumen, als probten sie den Sängerwettstreit. Ja, der Frühling nahte mit aller Macht. Sollte die Zeit der Liebe an ihr vorüberziehen, weil sie Stefans Aufrichtigkeit bezweifelte? Niemals, redete sie sich ein und wischte sich eine Träne aus den Augenwinkeln.
Eher ließ sie einige Chorproben ausfallen, fuhr nicht so oft zu Irma Osterloh und setzte wieder alles dran, Stefan von ihren Vorzügen als liebende Ehefrau zu überzeugen!
Als sie eine Stunde später Dany und Jossi vom Kindergarten abholte, fand sich auch ihr Schlüsselbund. Dany schaute nur kurz schuldbewusst drein, denn sie drückte ihn zärtlich an sich. Seinen warmen Körper zu spüren, schenkte ihr die Gewissheit, wenigstens von ihm geliebt zu werden.
»Hast du etwa geweint, Mami?«, fragte Reserl, als sie vor der Schule ins Auto stieg.
Marie hielt den Atem an. »Natürlich nicht. Warum soll ich denn weinen? Das war nur die Sonne, die mich blendete.«
Reserl war zufrieden. »Dürfen wir dann heute die Faschingskostüme anprobieren?«
»Morgen ist früh genug«, meint Marie. Denn an diesem Nachmittag wollte sie Stefan zu einem gemeinsamen Rundgang zu den Gemüsefeldern begleiten. Wie oft hatte er sie darum schon gebeten, und sie hatte nie