Wenn wir die orientalischen Völker übergehen und nach dem Volke fragen, das wohl in der alten Welt am meisten geleistet hat in Feststellung natur- oder vernunftrechtlicher Grundsätze, so sind das unzweifelhaft die Griechen gewesen. In der Philosophie der Griechen spielen naturrechtliche Spekulationen eine sehr bedeutende Rolle. Sie sind die Begleiterscheinung der politischen Kämpfe, die sich in den vorgeschritteneren Stadtstaaten Griechenlands abspielen, vor allem in Athen. Auch das ist bemerkenswert, daß, wenn eine bisher anerkannte Philosophie erschüttert, übersehen oder vernachlässigt wird – ein Vorgang, der uns meist nur in lückenhaften Berichten überliefert wird und daher abstrakt erscheint –, dies oft tatsächlich einen ganz realen Hintergrund hat in politischen Kämpfen, die sich etwa gleichzeitig oder kurz vorher abgespielt haben. Wie die religiösen Überlieferungen werden die Staatseinrichtungen schon in der alten Welt vor den Richterstuhl der Vernunft gezogen und darauf geprüft, wie sie den natürlichen Bedürfnissen der Bürger eines vollkommenen Gemeinwesens entsprechen. Wir finden das bei Plato und seinen Vorgängern, bei Aristoteles, vor allem aber in der Geschichte der Stoa, bei Zeno und seinen Schülern. Die Stoa hat darin am meisten geleistet, die naturrechtliche Seite der Gesetzgebung zu betonen und das Ansehen des positiven Rechts zu erschüttern. Das ist auch geschehen seitens der Schüler der Stoa im späteren Rom. Hier brauche ich nur an Seneka zu erinnern. Bei den christlichen Sekten ist es der Begriff der Gotteskindschaft beziehungsweise der Gleichheit vor Gott, der zu naturrechtlichen Folgerungen Anlaß gibt oder für sie ausgedeutet wird. Augustinus, wohl der bedeutendste der Kirchenväter, ergeht sich in naturrechtlichen Betrachtungen, und der große Scholastiker Thomas von Aquino hat ein ganzes System eines Naturrechtes entworfen, das er in Einklang zu bringen sucht mit den Grundsätzen des kanonischen Rechtes. Aber die zur Zeit des Thomas auf der Höhe ihrer weltlichen Macht angelangte römische Kirche witterte in diesen naturrechtlichen Theorien und Ausführungen die umstürzlerische Tendenz und hat sie demgemäß verworfen. Um so stärkere Pflege finden sie aber in der Geschichte bei den ketzerischen Sektierern des Vorreformations- und Reformationszeitalters. Im Begriff des Wortes „Ketzer“, das abgeleitet ist von Katharer, Reiniger, liegt schon die naturrechtliche Tendenz angedeutet, das Zurückgreifen auf die kritisierende Vernunft, allerdings beschränkt auf die Auslegung der Bibel. Diese wichtige Epoche im einzelnen zu beleuchten, muß ich mir versagen, so interessant es wäre, die ganze Entwicklung der christlichen Sekten unter unserem Gesichtspunkt bis zur Reformation zu verfolgen.
Nachdem der Protestantismus in einer Reihe von Staaten gesiegt hatte, ist es in Holland der berühmte Rechtslehrer und Staatsmann Hugo de Groot, nach damaliger Sitte latinisiert in Grotius, der in seinem Werk „De jure belli ac pacis“ die erste erschöpfende systematische Darstellung des Völkerrechts gibt und sie in der Einleitung stützt auf eine naturrechtliche Begründung, die für die Wissenschaft des Naturrechts grundlegende Bedeutung erhalten hat. Heute schätzt man Grotius als den eigentlichen wissenschaftlichen Begründer des Naturrechts. Noch eindringlicher aber berufen sich auf das Naturrecht – und dieses eben als natürliches Recht aufgefaßt – die kommunistischen und halbkommunistischen Sektierer der späteren Reformationszeit und der folgenden Jahrhunderte. Ich brauche nur allgemein auf diese großen Kampfperioden zu verweisen, auf die Bauernkriege, die Kämpfe der Wiedertäufer usw. Da findet man immer wieder die Berufung auf das Naturrechtliche als Begründung von Forderungen.
Hier ist es am Ort, eine Bemerkung einzuflechten. Man kann die ganze Bewegung des Sozialismus zurückführen auf zwei große Stämme oder Wurzeln, aus denen sie ihre Kraft zieht. Die eine Wurzel und der sich daraus entwickelnde Stamm sind die realen Kämpfe jeweilig unterdrückter, zurückgesetzter Klassen oder Schichten der Gesellschaft. Der andere Stamm aber ist die Ideologie, die vorwiegend von Gelehrten, Denkern, Priestern usw. vertreten ist und anscheinend keinen direkten Zusammenhang mit den Kämpfen hat. Es ist sogar Tatsache, daß vielfach solche Ideologen, die weit umfassende kommunistische Theorien ausgearbeitet haben, den praktischen Kämpfen kühl, gleichgültig, beinahe ablehnend gegenüberstanden. Denn die Kämpfe werden meist nicht um große weitumfassende Ziele, sondern um bestimmte begrenzte Forderungen geführt, die nicht immer gut formuliert sind und einer größeren Sache schädlich zu sein scheinen. So kommt es, daß, wenn auch die Ideologen gar manchesmal beeinflußt sind von den Kämpfen, ohne es zu wissen, und wenn umgekehrt die Kämpfer, ohne es zu wissen, von ihnen manches empfangen haben, wenn also auch die Fäden hinüber und herüber laufen, doch die beiden Stämme lange Zeit getrennt ihren Weg gehen. Erst in neueren Jahrhunderten finden sie sich zusammen oder wachsen sie zusammen. Karl Kautsky und meine Wenigkeit haben einmal einen solchen Stammbaum des Sozialismus entworfen – er ist auch reproduziert worden –, wo wir zeigten, wie die beiden Stämme sich verzweigten und schließlich im 19. Jahrhundert zusammenwuchsen und daß, wie wir glauben, das Zusammenwachsen auf seine Höhe gebracht worden ist durch die marxistische Begründung des Sozialismus.
Die Berufung auf das Naturrecht findet auf die verschiedenste Weise statt. Kennzeichnend ist der Spruch, der, wenn nicht schon in den deutschen Bauernkriegen, so jedenfalls in der Englischen Revolution ausgespielt worden ist:
Als Adam grub und Eva spann,
Wer war denn da der Edelmann?
Das Volk suchte sein Naturrecht aus der Bibel zu beweisen, die ja zuerst keine Klassenunterschiede kennt. Sie spielt eine große Rolle in der Englischen Revolution des 17. Jahrhunderts. England war, nachdem es die „Rosenkriege“ überwunden hatte, als Inselland von den Kriegen verschont, die den Kontinent verheerten. Die politische Entwicklung konnte sich hier ungestörter vollziehen, und so hatte es schon Mitte des 17. Jahrhunderts seine große politische Revolution. Früher nannten die Engländer diese große Revolution die „Rebellion“, und erst die Erhebung, die ein Menschenalter später, 1688, stattfand und den Sturz der Stuart-Dynastie besiegelte, die glorreiche „Revolution“. Heute ist allgemein anerkannt, daß die erste Bewegung den Namen „Revolution“ verdient. Schon die großen Führer der bürgerlich-adligen Klasse nun, die gegen die absolute Monarchie Karls I. kämpften, stützten sich in ihrer Argumentation unter anderem auch auf das Naturrecht. Noch mehr aber nahmen die hinter ihnen stehenden Klassen, die Independenten, es für sich in Anspruch, und am stärksten kommt es zum Ausdruck in der Lehre derjenigen Sekte, die sich die „wahren Leveller“ nannte. Eine Sekte der Independenten wurde von den Gegnern „die Gleichmacher“ – Leveller – genannt und nahm alsdann diesen Namen an. Es waren im wesentlichen politische Radikale. Dann aber kam eine Gruppe, die noch weiter ging, kommunistische Ideen aufstellte und sich „die wahren Leveller“ nannte. Bei ihr findet man die naturrechtlichen Gedanken am klarsten ausgedrückt. Ihr bedeutendster Verfechter war Gerard Winstanley, von dem wir auch eine interessante Utopie, das Idealbild eines kommunistischen Staates, haben, die lange unbeachtet geblieben war, bis sie mir bei meinen Arbeiten in der Bibliothek des Britischen Museums auffiel. Von diesem Winstanley existiert eine Schrift, die den Titel trägt: „Die Erhebung der Fahne der wahren Leveller“. Sie erschien 1649 und beginnt mit folgendem Satz, der sehr charakteristisch ist:
„Im Anfang der Zeit erschuf der große Schöpfer Vernunft die Erde als Gemeingut aller.“
Man beachte, wie rationalistisch hier nicht „die Gottheit“, sondern „die Vernunft“ als Schöpfer hingestellt wird. Winstanley führt dann weiter aus, erst durch die Gewalt sei die Knechtschaft in die Welt gelangt, und das sei der Adam, der Vater der Erbsünde. Er treibt politische Etymologie und erklärt: „Adam, das ist also ein Damm – a dam – gegen die Freiheit.“ Die Vernunft aber rechtfertige die Forderungen der wahren Leveller.
Überhaupt ist die Englische Revolution außerordentlich reich an politischer Literatur. Man wird eigentümlich berührt durch eine darauf bezügliche Bemerkung der berühmtesten der Flugschriften, die zur Ermordung Cromwells aufforderten. Das fast ergreifend geschriebene Pamphlet stammt von einem früheren Anhänger Cromwells und hat den Titel: „Töten heißt nicht morden!“ Es kam heraus im Jahre 1856, wo man nur erst die kleinen Handpressen hatte, und beginnt mit den Worten:
„Es ist nicht