Dem letzteren Zeitalter gehört auch die Entstehung des Buches an, dessen Titel zum Sammelbegriff für die ganze Gruppe der Beschreibungen spekulativ konstruierter Gemeinwesen oder Idealstaaten wird, nämlich die Abhandlung Utopia des Thomas More. Man kann von dieser Schrift des charaktervollen Staatskanzlers Heinrichs VIII. von England sagen, daß sie einer ganzen Literatur Leben gegeben hat. Denn sie machte für ihre Zeit Sensation und wurde in die verschiedensten Sprachen übersetzt. Das 16., 17. und 18. Jahrhundert sind voll von Beschreibungen vorgestellter Idealgemeinwesen, von Staatsromanen, wie man sie auch im Hinblick auf die Form der Beschreibung nennt. Nicht alle davon haben auf die Bezeichnung als sozialistisch Anspruch, es fehlt durchaus nicht an Utopien, die nach unseren heutigen Begriffen bürgerlicher Natur sind. Das gilt z. B. von der unvollendeten Utopie „Die neue Atlantis“, die einen der Amtsnachfolger des Thomas More, den berühmten Philosophen der empirischen Methode, Francis Bacon, zum Verfasser hat.
Nach zwei Seiten hin läßt sich in den sozialistischen Utopien des mit der Reformation einsetzenden Zeitalters eine abgestufte Entwicklung feststellen: erstens eine Tendenz der Überbietung in phantastischen Ausmalereien, und zweitens eine Tendenz zum größtmöglichen Rationalismus in der Spekulation. Diese letzte Tendenz ist für unsere Betrachtung die wichtigere, denn sie war ein Hebel zur Förderung der sozialen Erkenntnis und führte schrittweise zur wissenschaftlichen Behandlung der sozialistischen Bestrebungen. Die Verfasser rationalistischer Utopien des Sozialismus suchen ihre Vorgänger zu korrigieren, und wenn das lange Zeit ohne die Form der Polemik vor sich geht, so läßt sich doch bei verschiedenen Autoren eine unausgesprochene Bekämpfung von Ideen des oder der Vorgänger feststellen.
Es handelt sich schon um ernst aufgefaßte Streitfragen, der Nachfolger widerlegt den Vorgänger, ohne ihn zu nennen.
Was aber den Utopien gemeinsam war, was das eigentliche Merkmal der Utopie ist, ist die entscheidende Rolle, die bei ihnen der Zufall und der noch vom Zufall abhängige Wille spielen. Lange Zeit ist in diesen Beschreibungen der geschilderte Idealzustand hergestellt worden durch das Eingreifen einer ungewöhnlich weisen Persönlichkeit, eines Gesetzgebers oder anordnenden Fürsten, so daß, wenn dieser Fürst oder Gesetzgeber zufällig nicht geboren oder vor der Zeit gestorben wären, das betreffende Volk oder Land den Idealzustand nicht zu kosten bekommen hätten. Später, im Zeitalter der französischen Revolution, tritt an die Stelle des individuellen Willens oder Schaffensdranges von Wohltätern in der Konstruktion der Utopie als schöpferische Kraft der Kollektivwille von Anhängern einer bestimmten Idee. Dieser Kollektivwille ist aber, selbst wo er als der Wille eines ganzen Volkes gedacht wird, immer noch Zufallssache. Ob die Gruppe oder die Volksmasse für die Idee kämpfen, hängt lediglich davon ab, wie weit und wie stark sie von der Propagierung dieser Idee erfaßt sind, das Aufkommen der Idee aber selbst ist noch wesentlich vom Zufall abhängig.
An der Wende zum 19. Jahrhundert und in dessen erstem Drittel tritt hier ein wesentlicher Fortschritt ein. Es ist in der Geschichte des Sozialismus die Epoche der großen, kritisch gerichteten Utopisten, der Robert Owen, Charles Fourier und Henri Saint-Simon und ihrer Schulen. Das Merkmal dieser Sozialisten, das sie von den Utopisten des 18. Jahrhunderts unterscheidet, ist die Rolle, die bei ihnen der Entwicklungsgedanke spielt, und das Bestreben, an das Gegebene anzuknüpfen, die Welt, die sie vor sich haben, weiterzubilden. Robert Owen verweist in seinen sozialistischen Abhandlungen auf die in England aufgekommene kapitalistische Fabrik und die Zustände, die sie geschaffen hat, und nimmt sie zum Ausgangspunkt sozialistischer Reformpolitik. Charles Fourier im noch stark kleinbürgerlichen Frankreich sucht den Sozialismus als Ideal psychologisch zu fundieren, in der Praxis auf dem Wege der Genossenschaften zu verwirklichen, wobei sein Plan kommunaler Genossenschaftspolitik auf besonderes Interesse Anspruch hat. Saint-Simon ist so sehr Entwicklungstheoretiker, daß es fraglich wird, ob man ihn überhaupt noch einen Utopisten nennen kann, wie er zugleich so sehr Wirklichkeitsmensch ist, daß man befugt ist, seinen Anspruch auf Einreihung in die Geschichte des Sozialismus zu bestreiten. Wenn Fourier stark von Morelly, dem geistreichen Verfasser der Utopie „Die Basiliade“, beeinflußt ist, so Saint-Simon von Condorcet, dem Enzyklopädisten und Verfasser der wissenschaftlichen Abhandlung über den Fortschritt des menschlichen Geistes und die Vervollkommnungsfähigkeit der Menschheit. Bei den Saint-Simonisten finden wir unter anderem schon die Einteilung der Geschichte der sich fortschrittlich entwickelnden Nationen in organische und kritische Perioden, d. h. Perioden relativ ruhiger Entwicklung und Perioden revolutionärer Umwälzungen.
Aber bei allen dreien, bei Owen, bei Fourier und bei Saint-Simon und ihren Schülern spielt trotz ihres Strebens nach Wissenschaftlichkeit und Anknüpfung an das Gegebene die Erfindung der Mittel zur Verwirklichung des Sozialismus die entscheidende Rolle; wo sie praktisch sein wollen, arbeiten sie Rezepte aus, und immer wieder sind sie in Gefahr, auf die Utopie zurückzugreifen. An die Stelle des Utopismus des Ziels tritt ein Utopismus des Mittels. Die Literatur des Sozialismus im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts ist voller Schriften, die utopistisch im Mittel sind, wobei man wieder einen utopistischen Reformismus und einen utopistischen Revolutionarismus unterscheiden kann. Der eine versteift sich auf ökonomische Experimente, die wegen ihrer unzulänglichen Voraussetzungen notwendig fehlschlagen müssen, der andere huldigt einem Wunderglauben an die schöpferische Allmacht der Revolutionsgewalt.
Hier nun bewirken einen grundlegenden Wandel in den Anschauungen die beiden großen Männer, die heute als Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus weithin anerkannt sind: Karl Marx und Friedrich Engels.
Warum trägt ihre Lehre diesen Namen, hat sie den besonderen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit? Weil sie tiefer und systematischer als alle vor ihr aufgestellten sozialistischen Theorien eindringt in das Wesen der Kräfte und Entwicklungsgesetze des gesellschaftlichen Fortschritts, den Kampf für den Sozialismus auf eine durchgearbeitete Entwicklungstheorie stützt, in der der Gedanke von der organischen Natur der sozialen Entwicklung zum Unterschied von der Auffassung dieser Entwicklung als eines mehr mechanischen oder chemisch bestimmten Vorgangs zu seinem Rechte kommt.
Wille und Idee, die von den Utopisten in der einen oder anderen Weise überschätzt werden, werden in der Marx-Engelsschen Lehre zwar nicht, wie vielfach angenommen worden ist, als Triebkräfte der sozialen Entwicklung gering eingeschätzt oder gar ignoriert – ohne Idee kein Wille und ohne Wille