Der Sozialismus einst und jetzt Streitfragen des Sozialismus in Vergangenheit und Gegenwart. Bernstein Eduard. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Bernstein Eduard
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 4064066118020
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zu weiteren Zwecken der Untersuchung fruchtbar verwendet zu haben. Was Marx bei seinem großen Werk „Das Kapital“ sich zur Aufgabe stellte, war nicht der Nachweis, daß den Arbeitern das Produkt der Arbeit gehöre, weil Arbeit den Wert der Ware bestimmt, sondern das Streben, die großen Bewegungsgesetze der modernen kapitalistischen Wirtschaft zu erkennen, zu formulieren und festzustellen. Dazu brauchte er allerdings die Theorie vom Arbeitswert, weil sie ihm die Grundlage der Theorie vom Mehrwert über den Preis hinaus ist, des Mehrwerts, um den in der kapitalistischen Wirtschaftsordnung sich der Kampf der Klassen vollzieht. Der Kampf um den Mehrwert zwischen Unternehmer und Grundbesitzer, der Kampf um den Mehrwert zwischen Arbeiter und Unternehmer – der Lohnkampf –, der Kampf um den Mehrwert der Unternehmer untereinander in der freien Konkurrenz, das sind die großen Triebkräfte, die auf die Entwicklung der Wirtschaften nach den verschiedensten Seiten hin den allergrößten Einfluß haben.

      Der Streit um den Mehrwert, der in der Grundrente steckt, ist nicht ein rein theoretisches Spiel, sondern der Niederschlag des Kampfes um die Bestimmung fast der ganzen Agrargesetzgebung einschließlich der Zollgesetzgebung in bezug auf Agrarprodukte. Der Kampf in der freien wirtschaftlichen Konkurrenz um den Mehrwert ist es wiederum, der dahin führt, daß, wenn der Druck auf die Löhne nicht möglich ist, um die Produktion zu verbilligen, die technische Herstellungsweise immer mehr vervollkommnet wird. Er führt ferner dazu, daß der Unternehmer, um andere Unternehmer aus dem Felde zu schlagen, sich genötigt sieht, die Unternehmung immer mehr zu vergrößern, damit ein relativ kleinerer Anteil an den Kosten auf den Lohn entfällt und ein relativ größerer Mehrwert verbleibt. Hierum aber spielt auch der Kampf der Unternehmer und Arbeiter selber, und als solcher spitzt er sich nach verschiedenen Seiten hin zu. So ist der Kampf um den Mehrwert in der kapitalistischen Gesellschaft gewissermaßen die zuletzt bestimmende Triebkraft aller großen wirtschaftlichen Bewegungen, hinter denen, durch sie hervorgerufen, die großen politischen Kämpfe, die Klassenkämpfe, stehen.

      Die Umkehrung der Lehre vom Arbeitswert gegen Ricardo und die ganze bürgerliche Ökonomie setzt in England schon um das Jahr 1821 ein. Marx zitiert selbst eine in jenem Jahre erschienene kleine anonyme Schrift, deren Titel, ins Deutsche übersetzt, ungefähr lautet: „Die Quelle und das Abhilfsmittel unserer nationalen Schwierigkeit. Ein Brief an Lord John Russell“. Sie ward also 26 Jahre früher verfaßt, bevor Marx seine erste ökonomische Abhandlung schrieb, die gegen Proudhon gerichtete Streitschrift „Das Elend der Philosophie“, und 45 Jahre vor seinem „Kapital“. In dieser Schrift, was ganz interessant ist, heißt es:

      „Was auch dem Kapitalisten zukommen möge, er kann immer nur die Mehrarbeit (hier haben wir schon diesen Begriff) des Arbeiters sich aneignen, denn der Arbeiter muß leben. Wenn das Kapital nicht an Wert abnimmt im Verhältnis, wie es an Masse zunimmt, so wird der Kapitalist dem Arbeiter das Produkt jeder Arbeitsstunde abpressen über das Mindestmaß dessen, wovon der Arbeiter leben kann.“

      Da haben wir auch den Gedanken der Theorie des ehernen Lohngesetzes, wie Lassalle es seiner Agitation zugrunde legte, und wie es lange Jahre von der deutschen Arbeiterbewegung gleich einem Heiligtum hochgehalten wurde. Die zwanziger und dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts sind ja die Blütezeit, auch die geistige Blütezeit des Sozialismus in England. Sie zeitigte eine außerordentlich interessante sozialistische Literatur, sozialistische Schriften Robert Owens selbst, der William Thompson, John Gray, T. R. Edmonds, J. F. Bray und noch einer ganzen Reihe Schriftsteller aus der Schule Robert Owens. Sie alle fußen darauf: Der Arbeiter bekommt nicht den vollen Ertrag seiner Arbeit, die Arbeit und nicht der Arbeitslohn bestimmt den Wert der Ware, infolgedessen hat der Arbeiter auf den vollen Wert des Produkts Anspruch.

      Karl Marx hatte sein großes Werk über politische Ökonomie schon um 1849 in Angriff genommen, ging aber erst 1859 daran, es zu veröffentlichen. Es sollte in Lieferungen bzw. Heften erscheinen. Aber nur das erste Heft ist damals erschienen, nämlich die Schrift „Zur Kritik der politischen Ökonomie“, und in ihr wird vom Verhältnis des Arbeitslohns zum Arbeitswert noch gar nicht näher gehandelt.

      Es ist beiläufig ein bemerkenswertes Zusammentreffen, daß dieses Buch von Marx, in dessen Vorwort er die Grundgedanken seiner Geschichtstheorie entwickelt, die wir als soziologische oder sozialwissenschaftliche Entwicklungslehre kennen, in demselben Jahre herauskam, wo das erste bahnbrechende Buch von Charles Darwin erschienen ist: „Der Ursprung der Arten“, das grundlegend war für die biologische Entwicklungslehre, die Wissenschaft von der Metamorphose der Lebewesen. Wenn die Darwinschen Aufstellungen heute auch in vielen Punkten umgeworfen sind, so ist der Grundgedanke seiner Theorie doch beibehalten; er bleibt der Vater der biologischen Entwicklungslehre. Und ebenso mit Marx. Was bei Darwin für die Entstehung und Entwicklung der Arten der Kampf ums Dasein in der Natur ist, ist bei Marx für die Entwicklung der menschlichen Gesellschaften der Kampf der Klassen in der Gesellschaft. Beider Theorien sind grundsätzlich auf den Kampf gestützte Entwicklungslehren.

      In dem Buche „Zur Kritik der politischen Ökonomie“ nun findet man von Marx an einer Stelle, wo er die damaligen Angriffe auf die Ricardosche Werttheorie auseinandersetzt und die aus ihr sich ergebenden Probleme formuliert, folgenden Satz:

      „Wenn der Tauschwert eines Produktes gleich ist der in ihm enthaltenen Arbeitszeit, dann ist der Tauschwert eines Arbeitstages gleich seinem Produkt, oder der Arbeitslohn muß dem Produkt der Arbeit gleich sein. Nun ist das Gegenteil der Fall.“

      Und dazu setzt Marx die Fußnote:

      „Dieser von ökonomischer Seite gegen Ricardo beigebrachte Einwand ward später von sozialistischer Seite aufgegriffen. Die theoretische Richtigkeit der Formel vorausgesetzt, wurde die Praxis des Widerspruches gegen die Theorie bezichtigt und die bürgerliche Gesellschaft angegangen, praktisch die vermißte Konsequenz ihres theoretischen Prinzips zu ziehen. In dieser Weise kehrten wenigstens englische Sozialisten die Ricardosche Formel des Tauschwertes gegen die politische [bürgerliche. Ed. B.] Ökonomie.“

      Marx nennt dann weiterhin an dieser Stelle diese Ableitung des Sozialismus von Ricardo die utopistische Auslegung der Ricardoschen Formel, und man hat geglaubt, sie sei das große Werk von Marx! Eine Auslegung, die er gerade als utopistisch bezeichnet hat! Sie aber zieht sich durch die ganze sozialistische Literatur des 19. Jahrhunderts. Sie gipfelt, wie hier schon angedeutet wird, in der Forderung des Rechtes auf den vollen Arbeitsertrag. Die Frage dieses Rechtes hat gleichfalls eine ganze Literatur erzeugt. Unter anderem hat sie eingehend behandelt Anton Menger, der verstorbene, sehr gelehrte österreichische Sozialist. Aber noch ein anderer hat die Idee aufgegriffen, und das war Ferdinand Lassalle, der sie anscheinend zum Angelpunkt seiner sozialistischen Agitation machte. Auch bei Proudhon finden wir sie in seinen ersten großen sozialistischen Schriften behandelt, die am meisten Sensation erregten. Seine erste sozialistische Schrift hieß: „Was ist das Eigentum?“, in ihr hat er das bekannte Paradoxon aufgestellt: „Das Eigentum ist Diebstahl“. Und wie beweist er den Satz? Er stützt ihn darauf, daß das Eigentum es ermöglicht, den Ertrag der Arbeit des Arbeiters diesem zu verkürzen, ihm im Lohn einen großen Anteil vorzuenthalten. Und so gründet er seine sozialistische Theorie auf das Recht auf den vollen Arbeitsertrag, auf das Ricardosche Wertgesetz. Dasselbe ist der Fall bei Karl Rodbertus, dem berühmten deutschen, mehr konservativ gerichteten Nationalökonomen. Auch dieser beruft sich für seine sozialistische Theorie auf das Wertgesetz Ricardos, und ebenso tut es Ferdinand Lassalle in seinen Agitationsschriften. Ferdinand Lassalle geht hierbei zuletzt zurück auf das Naturrecht, begründet den Sozialismus naturrechtlich. Er befindet sich damit, ohne es zu wissen, auf demselben Boden wie Proudhon. Ja, das bedeutende, hochinteressante wissenschaftliche Hauptwerk Lassalles: „Das System der erworbenen Rechte“, ist im letzten Grunde auch nur ein Eintreten für das Naturrecht gegen das erworbene Recht, denn sein leitender Grundgedanke ist die Anwendung eines aus dem Naturrecht abgeleiteten Satzes der Erklärung der Menschenrechte der großen französischen Revolution, nämlich daß keine Generation spätere Generationen an ihre Gesetze binden kann, auf das öffentliche wie auf das Privatrecht.

      Ganz anders Marx. Er hat die Werttheorie, die er bei Ricardo vorfand, konsequent weitergebildet, aber nicht, um aus der Lehre vom Mehrwert Rechtsansprüche herzuleiten, sondern um die Bewegungsgesetze der kapitalistischen Wirtschaft schärfer zu erfassen und darzustellen. Das unterscheidet ihn von fast allen anderen Sozialisten, die an Ricardo angeknüpft haben, und nicht zum wenigsten