Landjägerkorporal Murmann sah aus wie ein pensionierter Schwingerkönig. Sein Uniformrock stand offen, auch das Hemd klaffte und ließ eine Brust sehen, auf der die Haare dichter wucherten als auf dem Kopf.
»Salü«, sagte Studer.
»Eh, der Studer!« Und ob er noch immer Billard spiele? Er solle abhocken. Dann erhob Murmann die Stimme zu einem tosenden Ruf, mit langgezogenem I-Laut, und der Ruf galt Frau Murmann – aber es war nicht deutlich, ob die Frau Emmy oder Anny hieß. Das blieb sich ja auch im Grunde gleich.
»Wyße oder Rote?« fragte Murmann.
»Bier«, sagte Studer kurz.
Der tosende Ruf erhob sich zum zweiten Male, und zwei I-Laute hallten durchs Haus. Es kam auch Antwort, und der Ruf der Antwort war genau so tosend. Nur eine Tonlage höher. Dann erschien Frau Murmann in der Tür, und sie sah aus wie eine Statue der Helvetia aus den achtziger Jahren. Nur das Gesicht war viel, viel intelligenter als jenes besagter Statue. Von patriotischen Bildnissen wird ja auch keine Intelligenz verlangt. Wozu auch?
Ob sie den Studer noch kenne, wollte der Schwingerkönig wissen, und die intelligente Helvetia nickte. Dann erkundigte sie sich, ob Studer schon gegessen habe. Er habe im ›Bären‹ zu Mittag bestellt, erwiderte der Wachtmeister, worauf die beiden großen Menschen zusammen böse wurden. Das sei nicht recht, es sei doch selbstverständlich, dass Studer hier esse – gegen das dröhnende Duett war nicht aufzukommen. Glücklicherweise begann im oberen Stockwerk eine dritte Stimme zu kreischen, worauf sich Frau Murmann – hieß sie Emmy oder Anny? – empfahl. Studer musste versprechen, zum Nachtessen ganz bestimmt zu kommen.
»Ja hmm«, sagte Studer, trank sein Glas aus, seufzte: »Ahh« und schwieg.
»Ja«, sagte Murmann, trank sein Glas aus, gluckste, bekam Tränen in die Augen von der Kohlensäure, und dann schwieg auch er…
Es war friedlich in dem kleinen Büro. In einer Ecke stand eine alte Schreibmaschine, deren Tasten gelb schimmerten: aber sie war groß und solid und passte zu dem Korporal Murmann. Durchs Fenster, das offen stand, sah Studer in einen Garten: kleine Buchshecken säumten die Beete ein, auf denen der Spinat schon aufgeschossen war. Aber in der Mitte des Gartens, dort, wo die Buchshecken verdrehte Arabesken bildeten, standen durchscheinend rote Tulpen.
Die gelben Pensèes, die sie bescheiden umgaben, waren schon am Verblühen. Sie erinnerten an Leute, die keiner Partei angehören, und es deswegen zu nichts gebracht haben…
»Du kommst wegen dem Witschi…«, sagte Murmann und dämpfte seine tosende Stimme. Das Gekreisch im oberen Stockwerk war verstummt, und Murmann wollte es wohl nicht wieder zum Erschallen bringen.
»Ja«, sagte Studer und streckte die Beine. Der Stuhl war bequem, er hatte Armstützen. Studer ließ sich gehen und blinzelte in den Garten, auf den jetzt die Sonne schien. Aber der Schein blieb nicht lange, das Grau kam wieder – nur die Tulpen leuchteten unentwegt…
Studer dachte an seine Unterredung mit dem Untersuchungsrichter. Wie viel Speuz hatte er dort verschwenden müssen! Der Murmann war entschieden vorzuziehen, obwohl er kein rohseidenes Hemd trug…
– Es sei so still hier, sagte Studer nach einer Weile, worauf Murmann lachte. Er habe eben keinen Lautsprecher wie die anderen Gerzensteiner, sagte er. Da lachte auch Studer.
Und dann schwiegen beide wieder.
Bis Studer fragte, ob Murmann den Schlumpf für schuldig halte.
»Chabis!« sagte Murmann nur.
Und dieses einzige Wort gab dem Fahnderwachtmeister Studer mehr Sicherheit als alle kriminologischen und psychologischen Spitzfindigkeiten, die er bis jetzt gesammelt hatte, um in sich die immerhin mehr gefühlsmäßige Überzeugung der Unschuld des Burschen Schlumpf zu festigen.
Studer wusste, Murmann war ein schweigsamer Mensch.
Es war nicht leicht, ihn zum Reden zu bringen. Ja, die Worte, die man in den alltäglichen, belanglosen Gesprächen tauscht, die saßen bei ihm locker. Aber sobald es sich um wichtigere Dinge handelte, war ein Wort wie beispielsweise: ›Chabis‹ fast ebensoviel wert wie die kräftigen Ausführungen eines Experten.
– Studer kenne eben noch nicht das Kaff Gerzenstein, sagte Murmann nach einer Weile. Er hatte sich eine Pfeife gestopft und rauchte langsam.
»Ich bin jetzt bald sechs Jahre hier«, sagte Murmann. »Und ich kenne den Betrieb. Ich kann nichts machen. Ich muss aufpassen. Weischt, Diplomatie!« (Er sagte ›Diplomaziiie‹ und drückte das eine Auge zu.) »Gut, dass du gekommen bist. Ich bin nämlich so…« Er steckte die Arme waagrecht aus, die mächtigen Handgelenke eng aneinandergepresst, um recht deutlich zu demonstrieren, wie machtlos er sei…
Dann schwieg er wieder.
»Weischt«, sagte er nach einer Weile, »der Äschbacher, der Gemeindepräsident…« und schwieg wieder lange. »Aber der alte Ellenberger!…« Und zwinkerte mit dem rechten Auge.
»Aber der Cottereau ist verschwunden…« warf Studer ein und nahm einen Schluck aus seinem Glas.
»Hab keinen Kummer«, sagte Murmann gemütlich. »Der kommt scho wieder ume…«
»Jää… aber hast du nicht die Polizeidirektion alarmiert, dass es dann im Radio gekommen ist?«
»Ich?« fragte Murmann und wies mit dem großen, behaarten Zeigefinger auf seine nackte Brust. »Ich?« Und ob Studer etwa krank sei, dass er so dumme Fragen stelle? Das habe doch der Ellenberger gemacht, um sich einen Spaß zu leisten! Beromünster, habe der Ellenberger einmal gemeint, sei auch nicht für die Hunde gebaut worden, man müsse den Leuten etwas zu tun geben. Und die vielen Empfänger…
Studer fand bei sich, dass dieses Gerzenstein ein merkwürdiges Dorf sei, und seine Einwohner waren noch merkwürdiger. Aber er beschloss, den Korporal Murmann nicht länger zu belästigen, übrigens wartete das Essen im ›Bären‹ sicher schon auf ihn. So verabschiedete er sich und versprach, am Abend wiederzukommen. Murmann schien diese Diskretion zu schätzen; denn er meinte beim Abschied: zum Reden habe man immer noch Zeit, und so um die Mittagsstunde, da habe er immer Schlaf. Wenn man jeden Abend die Polizeistunde kontrollieren müsse in allen Beizen, dann habe man tagsüber einen dummen Kopf. Dazu gähnte er ausgiebig.
So stand Studer wieder auf der asphaltierten Straße. Rechts und links, so weit der Blick reichte: