Wachtmeister Studer. Friedrich C. Glauser. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Friedrich C. Glauser
Издательство: Bookwire
Серия: Gesammelte Werke bei Null Papier
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783962816315
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Hei­ra­tet nie, Wacht­meis­ter.«

      – Er sei schon ver­hei­ra­tet, sag­te Stu­der, und kön­ne nicht kla­gen. – So, ge­schnapst habe der Wit­schi? – Ja, mein­te der El­len­ber­ger, so arg, dass der Äsch­ba­cher, der Ge­mein­de­prä­si­dent – der Mann schaue aus wie eine Sau, die den Rot­lauf habe – den Wit­schi habe nach Han­sen ver­sen­ken wol­len… (Han­sen nennt man im Kan­ton Bern die Ar­beits­an­stalt St. Jo­hann­sen).

      Nach ei­ner Wei­le frag­te der El­len­ber­ger:

      »Hat er von mir ge­spro­chen, der Er­win?«

      Stu­der be­jah­te. Der Schlumpf habe sei­nen Meis­ter ge­rühmt. Seit wann denn der El­len­ber­ger der Für­sor­ge für ent­las­se­ne Sträf­lin­ge bei­ge­tre­ten sei?

      »Für­sor­ge?« Die Für­sor­ge kön­ne ihm ge­stoh­len wer­den. Er brau­che bil­li­ge Ar­beits­kräf­te, voilá tout. Und dass er die Bur­schen an­stän­dig be­hand­le, das ge­hö­re zum Ge­schäft, sonst wür­den sie ihm wie­der draus­lau­fen. Er, der El­len­ber­ger, sei zu viel in der Welt her­um­ge­kom­men, die bra­ven Leu­te bräch­ten ihn zum Kot­zen, aber die schwar­zen Scha­fe, wie man so schön sage, die sorg­ten für Ab­wechs­lung. Von ei­nem Tag auf den an­de­ren kön­ne man in der schöns­ten Kri­mi­nal­ge­schich­te drin­nen ste­cken, an ei­nem Mord­fall be­tei­ligt sein, par ex­em­ple, und dann wer­de es spa­ßig.

      Der alte El­len­ber­ger stand auf:

      »Ich muss heim, Wacht­meis­ter, komm, Cot­te­reau… Ich denk, wir wer­den uns noch ein­mal se­hen… Be­su­chet mich dann, wenn Ihr nach Ger­zen­stein komm­t… Lä­bet wohl…«

      Der alte El­len­ber­ger wink­te der Kell­ne­rin, sag­te: »Al­les«, gab ein zünf­ti­ges Trink­geld. Dann schritt er zur Tür. Das letz­te, das Wacht­meis­ter Stu­der an dem Al­ten fest­stell­te, war si­cher merk­wür­dig ge­nug: Der El­len­ber­ger trug zu ei­nem schlechts­it­zen­den An­zug aus Halb­lei­nen ein Paar brau­ne, mo­der­ne Halb­schu­he. Die schwar­zen So­cken, die un­ter den zu kur­z­en Ho­sen her­vor­lug­ten, wa­ren aus schwar­zer Sei­de…

      Am nächs­ten Mor­gen schrieb Wacht­meis­ter Stu­der sei­nen Rap­port. Das Büro roch nach Staub, Bo­den­öl und kal­tem Zi­gar­ren­rauch. Die Fens­ter wa­ren ge­schlos­sen. Drau­ßen reg­ne­te es, die paar war­men Tage wa­ren eine Täu­schung ge­we­sen, ein sau­rer Wind blies durch die Stra­ßen und Stu­der war schlech­ter Lau­ne. Wie soll­te man die­sen Rap­port schrei­ben? Viel­mehr, was schrei­ben, was aus­las­sen?

      Da rief eine Stim­me von der Türe her sei­nen Na­men.

      »Wa isch los?«

      »Der Un­ter­su­chungs­rich­ter von Thun hat te­le­fo­niert. Du sollst nach Ger­zen­stein fah­ren… Du hast doch ges­tern den Schlumpf ver­haf­tet! Wie ist’s ge­gan­gen?«

      – Der Schlumpf habe ihm durch­bren­nen wol­len auf dem Bahn­hof, sag­te Stu­der, aber es habe nicht ge­langt. Da­bei blieb er sit­zen und schau­te von un­ten her auf den Po­li­zei­haupt­mann.

      »Eh«, sag­te der Haupt­mann, »dann lass den Rap­port sein. Kannst ihn spä­ter schrei­ben. Fahr jetzt ab. Am bes­ten wär’s, du wür­dest noch ins Ge­richts­me­di­zi­ni­sche ge­hen. Vi­el­leicht er­fährst du et­was.«

      Das habe er so­wie­so ma­chen wol­len, sag­te Stu­der brum­mig, stand auf, nahm sei­nen Re­gen­man­tel, trat vor einen klei­nen Spie­gel und bürs­te­te sei­nen Schnurr­bart. Dann fuhr er zum In­sel­spi­tal.

      Der As­sis­tent, der ihn emp­fing, trug eine wun­der­bar rot und schwarz ge­wür­fel­te Kra­wat­te, die un­ter dem stei­fen Um­leg­kra­gen zu ei­nem win­zi­gen Knöt­chen zu­sam­men­ge­zo­gen war. Wenn er sprach, leg­te er die Fin­ger der einen Hand flach auf den Bal­len der an­de­ren und mus­ter­te mit kri­ti­scher, leicht an­ge­ekel­ter Mie­ne sei­ne Fin­ger­nä­gel.

      »Wit­schi?« frag­te der As­sis­tent. »Wann ist er ge­kom­men?«

      »Mitt­woch, Mitt­wo­cha­bend, Herr Dok­tor«, ant­wor­te­te Stu­der und ge­brauch­te sein schöns­tes Schrift­deutsch.

      »Mitt­woch? War­ten Sie, Mitt­woch sa­gen Sie? Ach, ich weiß jetzt, die Al­ko­hol­lei­che…«

      »Al­ko­hol­lei­che?« frag­te Stu­der.

      »Ja, den­ken Sie, 2,1 pro Mil­le Al­ko­hol­kon­zen­tra­ti­on im Blut. Der Mann muss ge­sof­fen ha­ben, be­vor er er­schos­sen wur­de… Na, ich sage Ih­nen, Herr Kom­mis­sär…«

      »Wacht­meis­ter«, stell­te Stu­der tro­cken fest.

      »Wir sa­gen bei uns Kom­mis­sär, es klingt bes­ser. Ver­ste­hen Sie, bit­te, nicht nur die Al­ko­hol­kon­zen­tra­ti­on, aber der Zu­stand der Or­ga­ne, ich sage Ih­nen, Herr Kom­mis­sär, so eine schö­ne Le­ber­cir­rho­se habe ich noch nie ge­se­hen. Fa­bel­haft, sage ich Ih­nen. War der Mann nie in ei­ner Ir­ren­an­stalt? Nicht? Nie wei­ße Mäu­se ge­se­hen oder Ki­ne­ma­to­graf an der Wand? Klei­ne Män­ner, die tan­zen, wis­sen Sie? So einen schö­nen, rich­tig­ge­hen­den De­li­ri­um tre­mens? Nie ge­habt? Ah, Sie wis­sen nicht. Scha­de. Und ist er­schos­sen wor­den! Schät­zungs­wei­se eine Me­ter Di­stanz, kei­ne Pul­ver­spu­ren auf der Haut, dar­um ich sage eine Me­ter. Sie ver­ste­hen?«

      Stu­der grü­bel­te wäh­rend des Wort­schwal­les über eine ganz ne­ben­säch­li­che Fra­ge nach: wel­cher Na­tio­na­li­tät der jun­ge Mann mit dem klei­nen Kra­wat­ten­knöt­chen an­ge­hö­ren kön­ne… End­lich, auf das letz­te: ›Sie ver­ste­hen?‹ war er im Bil­de.

      »Par­la ita­lia­no?« frag­te er freund­lich.

      »Ma si­cu­ro!« Der Freu­den­aus­bruch des an­de­ren war nicht mehr zu brem­sen und Stu­der ließ ihn lä­chelnd vor­bei­rau­schen.

      Der As­sis­tent war so be­geis­tert, dass er Stu­ders Arm zärt­lich un­ter den sei­nen nahm und ihn in das In­ne­re führ­te. Der Pro­fes­sor sei noch nicht da, aber er, der As­sis­tent, sei ge­nau so auf dem lau­fen­den wie der Pro­fes­sor. Er habe selbst die Sek­ti­on ge­macht. Stu­der frag­te, ob er Wit­schi noch se­hen kön­ne. Das war mög­lich. Wit­schi war kon­ser­viert wor­den. Und bald stand Stu­der vor der Lei­che.

      Dies also war der Wit­schi Wen­de­lin, ge­bo­ren 1882, so­mit fünf­zig Jah­re alt: eine rie­si­ge Glat­ze, gelb wie al­tes El­fen­bein; ein arm­se­li­ger Schnurr­bart, hän­gend, spär­lich; ein wei­ches, schwam­mi­ges Dop­pel­kinn… Am merk­wür­digs­ten aber wirk­te der ru­hi­ge Aus­druck des Ge­sich­tes.

      Ru­hig, ja. Jetzt, im Tode. Aber es wa­ren doch viel Run­zeln in dem Ge­sicht… Gut, dass der Mann Wit­schi sei­ne Sor­gen los war…

      Auf alle Fäl­le war es aber kein Säu­fer­ge­sicht und dar­um sag­te Stu­der auch:

      »Er sieht ei­gent­lich nicht aus wie ein Wald- und Wie­senal­ko­ho­li­ker…«

      »Wald und Wie­senal­ko­ho­li­ker!« Wun­der­ba­rer Aus­druck!

      Die bei­den be­gan­nen zu fach­sim­peln. Zwi­schen ih­nen lag noch im­mer der Kör­per des to­ten Wit­schi. So wie er da lag, war die Wun­de hin­ter dem Ohr nicht zu se­hen. Und wäh­rend Stu­der mit dem Ita­lie­ner über einen Fall von Ver­si­che­rungs­be­trug dis­ku­tier­te, der in der Fachli­te­ra­tur Auf­se­hen er­regt hat­te (ein Mann hat­te sich er­schos­sen und den Selbst­mord