»Ist er Matrose oder am Ende gar Kapitän?«
»Nee, so weit hat’s min oll Vadder Hinrich nich gebracht. Lotse is er – – –«
»Lotse – was ist denn das?« Doktors Nesthäkchen hatte dieses merkwürdige Wort noch nie in ihrem zehnjährigen Leben gehört.
»Ze, wat n Lotse is, dat is man eben n Lotse. Dat sünd die Allertapfersten hier an de Nordsee. Bei Sturm und Nacht fahren sie, ohn’ an dat eigene Leben tau denken, in die wilden Wogens rut (raus), und führen die Schiffs, die in Gefahr sünd, sicher durch alle Klippens und Riffs bet (bis) in den Hafen. Er muß bald wedder do sein, oll Vadder Hinrich, die Uhr is all Klockner sechsen.«
»Was – so früh ist es noch?« Da war sie ja vor Tau und Tag ausgekniffen! Aber Annemarie bedauerte das durchaus nicht. Hatte sie doch dadurch Mutter Antjes Bekanntschaft gemacht.
»Wie kam denn das nun eigentlich mit dem Unglück von der Frau Kapitän, Mutter Antje?« forschte die Kleine begierig, nachdem sie ihrer Pflicht gegen Mutter Antjes Brauttasse vollauf nachgekommen. Denn diese Frage war ihr eigentlich ebenso wichtig wie die Schokolade.
»Je, wie sowat manchmal kummt. ’Ne dolle Sturmnacht war’t, da is dat Schiff mit Mann und Maus versoffen. Nich hier an unsere Küste, hier hätten unsere braven Lotsen es woll gerettet. Nee, da draußen war’t irgendwo.« die Alte machte mit dem braunen runzeligen Kinn eine Bewegung in die Luft hinein.
»Und denn?« Annemaries Augen hingen an den Lippen der alten Frau, die jetzt in Erinnerungen versunken, eine Pause machte.
»Je, wat ist da noch viel tau vertellen (zu erzählen)? Als de Nachricht von dem Dod des Herrn Kaptän kam, da is in der einen Nacht dat Haar von uns’ Fru vor Gram weiß geworden. Und als denn ok ihr lütter Jung noch starb, da hat se sich fremde Kinners in dat Hus genommen, um wat für’t Herz zu haben. Aber dat sünd keine Geschichtens für so lütte Deerns. Oll Modder Antje erzählt dem Kinning lieber mal Märchens von de Onnerbankjes, wenn et mal regnen dut.«
»Von den Onnerbankjes?« hellauf lachte Annemarie über das drollige Wort. »Was ist denn das für’n Ding?«
»De Onnerbankjes, dat sünd uns friesischen Heinzelmännchen – aber horch’ eins Deern, da schellt ja all de Klock von de Villa. Nu is Zeit zu’s Upstehn (Aufstehn) von die lütten Kinners. Nu lauf’ man ok, dat du wieder rüber kummst. Aber dat Kleid muß ich dir doch woll noch taumaken (zumachen).« Mit ihren zitterigen Händen haspelte die Alte an Annemaries Musselin-Kleidchen herum.
»Ach, Mutter Antje, ich wollte ja noch vor dem Frühstück zu meiner Mutti, die gar nicht weit von hier wohnt, und ihr einen Gutenmorgenkuß geben, deshalb bin ich ja bloß ausgekniffen,« meinte Annemarie etwas betreten.
Aber auch Mutter Antje machte ein bestürztes Gesicht.
»Nach din Modder willst? Je, Kinning, weiß denn dat uns’ Fru Kaptän, oder Tante Lenchen?«
»Nee«, Annemarie schüttelte der Wahrheit gemäß den ungekämmten Kopf.
»Na, min lütt Deern, denn bleib man lieber da, uns’ gute Fru Kaptän mußt nicht ärgern, der mußt allen zulieb dun, die hat genug Schmerz all ihr Lebdag durchgemacht.«
Die Worte der einfachen alten Frau drangen tief in die Seele des warmherzigen kleinen Mädchens. Fest nahm Doktors Nesthäkchen sich vor, der jungen Frau Kapitän mit dem weißen Haar während ihres Aufenthaltes in Wittdün nur Freude zu machen. Mutter Antje hatte Annemarie nicht bloß vor einer tüchtigen Erkältung bewahrt, sondern ihr auch ein gutes Geleitwort in die neue Heimat mitgegeben.
11. Kapitel
Was Nesthäkchen alles im Kinderheim lernt
Auf Mutter Antjes großen himmelblauen Wollstrümpfen erreichte das kleine Mädchen nach herzlichem Dank wieder die Villa. Jetzt war die Tür nicht mehr verschlossen, Annemarie brauchte ihren Weg nicht wieder durch das Fenster zu nehmen.
Hinten am Büfett stand Tante Lenchen und schmierte große Berge von Frühstückssemmeln.
»Ei, Annemarie, schon fertig, na, hast du die erste Nacht in Villa Daheim gut geschlafen?« fragte sie freundlich.
Aber ehe Annemarie noch antworten konnte, bemerkte sie das merkwürdige Aussehen der Kleinen. »Mädel, was hast du denn an?« lachte sie.
»Mutter Antje hat mir ihre Strümpfe geborgt, weil es noch zu kalt zum Barfußlaufen war.«
»Mutter Antje – ja, wie hast du denn schon am frühen Morgen deren Bekanntschaft gemacht?« verwunderte sich Tante Lenchen.
Annemarie stand da und zögerte mit der Antwort. Schließlich aber trug ihre Ehrlichkeit doch den Sieg davon. »Ich war ausgekniffen, weil ich meiner Mutti so gern einen Gutenmorgenkuß geben wollte,« ein sprechender Blick zum Fenster hin wies Tante Lenchen gleich den Weg, den sie genommen.
»Das war nicht recht von dir, mein Herzchen, sowas darfst du nicht wieder tun. Wer bei uns im Kinderheim ist, muß gehorchen und sich nach unserer Hausordnung richten. Vor sieben Uhr wird nicht aufgestanden. Versprichst du mir, Annemie, künftig brav zu sein wie die anderen Kinder?«
»Ja, das habe ich mir schon selber vorgenommen, weil – weil – – –« jetzt stockte die Kleine doch.
»Na, weshalb denn?« Tante Lenchens gütigen Augen gegenüber konnte man nichts verschweigen.
»Weil die Frau Kapitän so weißes Haar hat!« damit entwischte Annemarie auf ihren himmelblauen Wollstrümpfen flink in ihr Zimmer.
Ganz klar war ja wohl die Antwort nun nicht. Aber Tante Lenchen verstand sie im Zusammenhang mit dem Besuch bei Mutter Antje trotzdem – das machte ihr das fremde Kind, das es ihr in seinem offenen Liebreiz sogleich angetan, noch lieber.
Oben war Dörthe, das Hausmädchen, damit beschäftigt, die langen Zöpfe der Hamburger Ellen zu flechten. Mit Hallo wurde die kleine Ausreißerin empfangen.
»Oll Modder Antjes S–tube s–teht obenan im Kinderheim, dort sind wir alle am liebsten,« erzählte Ellen, als Annemarie von ihrer neuen Bekanntschaft berichtete.
»Ja, besonders im Winter, wenn es schneit, und der Sturm mit dem Meer um die Wette heult. Dann hocken wir alle ringsum auf Mutter Antjes Ofenbank. Und dann legt sie Bratäpfel für uns in die Ofenröhre, und während sie spinnt, erzählt sie uns schöne Märchen,« fiel auch Gerda ein.
»Au – das muß fein sein!« Annemarie freute sich schon im voraus auf die Sturmtage im Winter. Sie vergaß ganz, daß sie ja die feste Absicht hatte, mit Mutti wieder nach Berlin zurückzufahren.
Die blonden und braunen Zöpfchen waren alle geflochten, die roten und blauen Haarschleifen sämtlich gebunden. Nun saß die ganze ausgeschlafene Gesellschaft mit blanken Augen im Eßzimmer um die Tafel beim Kakao. Annemarie Braun hatte als Neue ihren Platz wieder neben Tante Lenchen. Eins der Kinder sprach ein Morgengebet, und dann langten sie alle tapfer zu. Annemarie, die bereits aus Mutter Antjes Hochzeitstasse gefrühstückt, eilte es nicht so damit. Sie unterzog inzwischen all die kauenden, trinkenden und schwatzenden Kinder einer eingehenden Musterung.
Da waren erst mal die Vroni und die Gretli, zwei blonde Schwestern, die immer Hand in Hand gingen und nebeneinander saßen. Sie mochten wohl etwas jünger als Annemarie sein. Aber dafür waren die beiden Freundinnen Lies und Lott, die stets die Köpfe zusammensteckten und kicherten, bereits richtige Backfische. Die waren schon so groß wie Kusine Elli in Arnsdorf. Die schwarzhaarige Suse war die Freundin von der Hamburger Ellen, trotzdem sie erst zwölf Jahre alt war. Und neben der Frau Kapitän saß noch Klein-Annekathrein, das Flachsköpfchen aus Stettin und gleichzeitig das Nesthäkchen des Kinderheims. Denn es war erst fünf Jahre alt. Nun kamen die jungen Herren an die Reihe. Zwei nett aussehende Jungen zwischen neun und zwölf Jahren, Lothar und Erich. Aber einer war darunter, der schien ein kleiner Rüpel zu sein,