»Mutti – ach, ist das ulkig! Sich bloß mal, ein Herr wie Vater buddelt noch Sand,« Annemarie wollte sich vor Lachen ausschütten.
»Hier an der Nordsee bauen auch die großen Leute Burgen, so nennt man die Sandgruben mit den hohen Wällen, Lotte. Jeder gräbt sich eine Burg und schmückt sie, so schön er kann. Sieh nur all die bunten Fähnchen, die sie dort aufgepflanzt haben, und hier sogar ein Anker aus Muscheln, ist das nicht hübsch?«
Ja, wundervoll war das. Nesthäkchen bedauerte lebhaft, noch keine Sandschaufel zu haben. Sie hätte sich am liebsten sofort eine Burg gebaut.
»Und für dich baue ich auch eine, und eine für Gerda – ach, wo mag meine Gerda jetzt bloß sein?« Aber Annemarie kam nicht dazu, sich weiter mit der auf eigene Faust in der Welt herumgondelnden Puppe zu befassen.
Eine Kinderschar, paarweise geordnet, wurde auf der breiten, von der Wandelhalle zur Uferpromenade herabführenden Steintreppe sichtbar – es waren die Clarsenschen Kinder. So wurden sie allgemein in Wittdün genannt, da es dort noch mehrere andere Kinderheime gab.
Sie waren in Begleitung von Tante Lenchen und der Engländerin. Erstere sah sich suchend um und trat dann auf Annemarie und ihre Mutter zu, die durch das weithin leuchtende rote Kleid des kleinen Mädchens kenntlich waren.
»Na, Annemarie, willst du nun mit unsern Kindern spielen?«
Ja, das wollte die Kleine sehr gern, denn spielen verpflichtete ja zu nichts. Sie ließ sich von Tante Lenchen zu den der »Neuen« voll Erwartung entgegenblickenden Zöglingen führen.
»Also das ist hier Annemarie Braun aus Berlin, eure neue Freundin. Nun spielt recht schön zusammen, die Namen der Kinder wirst du schon allmählich kennen lernen. Ellen, vielleicht nimmst du dich der Annemarie ein wenig an,« wandte sie sich an ein langaufgeschossenes, etwa dreizehnjähriges Mädchen mit braunen Zöpfen. Es sah ein wenig wie Margot Thielen aus, dies machte sie Annemarie gleich vertrauter.
»Komm, willst du an unserer Burg bauen helfen?« freundlich nahm die große Ellen die kleine Fremde bei der Hand.
»Au ja – aber ich habe bloß noch keine Schippe, die kauft mir meine Mutti erst morgen.«
»Das schadet nichts, du kannst mit meiner spielen, ich suche mir ein S-tück Holz zum Graben,« sagte die Hamburger Ellen freundlich. Annemarie aber lachte hellauf.
»Du sprichst ja genau wie unsere Rechenlehrerin Fräulein Neudorf, die immer sagt: »Macht nicht solchen S-pektakel, Kinder, Ihr s-tört die anderen Klassen. Ist das ulkig, daß ein Kind auch so s-pricht,« die kleine dreiste Krabbe hatte gar keine Scheu mehr vor der Großen. Auch Ellen und die anderen Kinder, die neugierig zuhörten, mußten lachen.
»Deine Lehrerin war gewiß auch aus Hamburg?«
»Nee, aus Hannover – aber nun wollen wir spielen,« unternehmungslustig hopste Annemarie in die ziemlich geräumige Sandgrube. Dort saß bereits ein kleines Mädchen in ihrem Alter mit rotgoldenen Haaren, die in lauter Locken und Löckchen das Kindergesicht umrahmten. »Wie das Engelsköpfchen auf Fräuleins Brosche zu Hause«, dachte Annemarie.
»Gerda, zeig’ mal der Annemarie eben, wie hoch unser Wall s-tehen soll, ich baue inzwischen die Burg nach der anderen Seite aus,« rief Ellen.
»Gerda heißt du – ach, ist das drollig, so heißt meine Puppe nämlich auch,« Annemarie ließ sich neben dem kleinen Lockenkopf nieder und begann eifrig den weißen, schönen Sand zu schaufeln. Dabei ruhten aber auch die Plappermäulchen nicht.
»Hast du deine Puppe mitgebracht?« erkundigte sich die fremde Gerda.
»Ja – nee – das heißt, sie kommt bald nach. Sie ist bloß noch mal allein nach Hamburg zurückgereist,« berichtete Annemarie.
»Was – allein?« das rotblonde Kind sah Sie Neue zweifelnd an. Schwindelte die am Ende?
»Es ist wirklich wahr,« beteuerte Annemarie, »ich habe sie nämlich in der Manteltasche meines Freundes, des Matrosen Willem, vergessen – aber der ist so nett, der bringt sie mir bestimmt wieder«. Nun lachten sie alle beide über die reiselustige Puppe, und damit war die Freundschaft zwischen den kleinen Mädchen besiegelt.
9. Kapitel
Wo ist Mutti?
Frau Doktor Braun, die sich zu Tante Lenchen und Miß John gesetzt hatte, sah voll Freude, wie leicht sich Annemarie an die Kinder anschloß. Sie war so in ihr Spiel vertieft, daß sie sich gar nicht mehr nach der Mutter umschaute.
»Das beste, gnädige Frau, ist wohl, wenn Sie heimlich ohne Lebewohl von der Kleinen fortgehen. Sie wird dann leichter mit uns mitkommen, sonst macht sie uns am Ende hier noch eine kleine Abschiedsszene«, schlug Tante Lenchen, oder vielmehr Fräulein Petersen, wie sie eigentlich hieß, vor. Auch Miß John war derselben Meinung.
Das war ein schwieriger Entschluß für das Mutterherz. Heimlich, ohne Abschiedskuß sollte sie von ihrem Nesthäkchen gehen – das Kind würde sicher weinen und schreien – sie kannte doch ihre ungezügelte Lotte. Aber Fräulein Petersen hatte recht; wenn sie blieb, würde Annemarie kaum dazu zu überreden sein, sich von ihr zu trennen. So schwer es Frau Doktor Braun auch wurde, es war sicher am besten so.
Während ihr Nesthäkchen ahnungslos mit Gerda, Ellen und einer kleinen Annekathrein, die sich auch noch in ihrer Burg eingefunden hatte, eifrig überlegte, wie man wohl die Burg wenn sie mal erst fertig war, am schönsten schmücken könnte, ob mit Blumen, mit Muscheln oder mit Fähnchen und bunten Papierschnitzeln, schlich sich Frau Doktor Braun verstohlen davon. Aber nicht weit, nur die Treppe hinauf bis zur Wandelbahn. Dort stand ein kleines Friesenhäuschen, in dem die Badekarten verkauft wurden. Da machte Frau Doktor Braun halt. Von hier aus konnte sie ihre Lotte gut im Auge behalten, ohne selbst von ihr gesehen zu werden. Nicht einmal die wunderbaren Farben der in purpurner Glut dem Meer zustrebenden Sonne vermochten den Blick der Mutter heute zu fesseln. Immer wieder kehrte derselbe zu dem roten Punkt unter den im weißen Sande herumkrabbelnden andern Kindern zurück. Das war ihre Lotte – wie würde sie sich bloß anstellen?
Es wurde kühl, obwohl es erst sechs Uhr war. Sobald die Sonne sich dem Niedergange neigt, erfolgt selbst an den heißesten Tagen eine starke Abkühlung an der Nordsee.
»Kinder, zieht eure Mäntel an und packt euer Spielzeug zusammen, es wird kalt, wir brechen auf«, erklang Tante Lenchens Stimme.
»Ach, es ist doch noch so schön – ich will bloß noch den einen Wall fertig bauen – nur einmal möchte ich mein Schiffchen noch schwimmen lassen, bitte, bitte, Tante Lenchen«, so bettelten die Kinderstimmchen durcheinander.
Aber so lieb Tante Lenchen auch war, sie blieb bei dem, was sie einmal gesagt hatte. Alles Bitten nützte nichts. Die Mäntel wurden übergezogen, die Südwester aufgesetzt, das Spielzeug zusammengeräumt.
Annemarie gab, sich bedankend, der großen Ellen ihre Sandschaufel zurück. Da fiel ihr Blick auf das Meer, das in glühendem Abendsonnenschein flammte.
»Mutti – die Nordsee brennt – die ganze Nordsee brennt!« aufgeregt rief es Doktors Nesthäkchen über den Strand.
Allgemeines Lachen erfolgte. Annemarie aber lachte nicht. Die sah mit großen, suchenden Augen an dem noch immer belebten Strand, umher.
Wo war denn ihre Mutti hingekommen?
Tante Lenchen, die diesen Augenblick vorausgesehen, trat voll herzgewinnender Güte zu dem kleinen angstvoll forschenden Mädchen.
»Deine Mutti hatte noch eine Besorgung zu machen, Annemie, sie läßt dich schön grüßen und du sollst inzwischen mit uns mitgehen«, sagte sie möglichst harmlos.
»Wa–as – Mutti ist weg?« Annemarie traute ihren Ohren nicht. Schreckensweit waren die großen Kinderaugen geworden.
»Du gehst doch gern mit