»Nee, das meine ich doch nicht, ich möchte wissen, was das ist.«
»Na, das siehst du doch. Wenn das Meer zurückgeht und ganz flach wird. Und wenn es wieder doll zum Strand hinfließt und alles überschwemmt, dann ist Flut. Da ist es am feinsten zu baden, sagen die Kinder.«
»Ja, warum fließt es denn aber bloß zurück und dann wieder doll zum Strand zu?«
»Na, das tut es eben«, weiter gingen Gerdas Kenntnisse auch nicht.
Damit beruhigte sich aber Doktors Nesthäkchen nicht. Das war gewöhnt, allen Dingen auf den Grund zu gehen und ihre Umgebung mit ihren ewigen Fragen zur Verzweifelung zu bringen.
»Mutti, woher kommt Ebbe und Flut?« jetzt wandte sich Annemarie an die richtige Adresse.
»Die Anziehungskraft des Mondes auf die Erde bewirkt das Fallen und Steigen des Meereswassers.« erklärte ihr die Mutter bereitwilligst.
Aber da ihr Nesthäkchen ein ziemlich verständnisloses Gesicht machte, meinte die Mutter: »Wenn du groß bist, wirst du das besser verstehen, Lotte.« Damit gab sich Annemarie nun endlich zufrieden.
Die anderen Kinder hatten jubelnd ihre Wellenjagd wieder ausgenommen. Annemarie kämpfte einen schweren Kampf. Gar zu gern hätte der Wildfang mitgetollt, aber – dort in der Burg saß Gerda ganz allein. Hatte sie nicht gesagt, sie wollte Gerdas Freundin sein?
»Ich spiele mit dir, Gerdachen, damit du nicht so allein bist.« Da war der heimliche Kampf des gutherzigen Kindes entschieden. Annemarie hatte gelernt, ihre eigenen Wünsche um anderer willen zu unterdrücken. Die glücklichen Augen Gerdas entschädigten sie reichlich dafür.
Die beiden Freundinnen gingen Muscheln für ihr Gärtchen suchen. Die allerschönsten schenkte Annemarie der Freundin, damit diese sich nicht so oft zu bücken brauchte, denn das wurde ihr schwer. Aber gar so leicht wurde Annemarie diese Selbstlosigkeit auch nicht.
Doch als sie, die Südwester voll herrlicher Muscheln, zu ihrem Gärtchen zurückkehrten, da war dasselbe verschwunden. Verschüttet von irgendeiner bubenhaften Hand.
Gerda weinte leise vor sich hin. In Nesthäkchen aber stieg der Zorn auf. Es wußte ganz genau, wo es den Missetäter zu suchen hatte. Lugten da nicht hinter dem hohen Gesträuch Peters schwarze Augen höhnisch zu ihnen herüber?
Ehe der Junge es sich versehen, hatte Annemarie ihn beim Kragen. Und als ob es Bruder Klaus wäre, so boxte und keilte sie sich nach allen Regeln der Kunst mit dem fremden Jungen. Vergessen waren die weißen Haare der Frau Kapitän – vergessen der Strand mit den vielen Menschen, die den kleinen Raufbolden, zum Teil belustigt, zum Teil kopfschüttelnd, zusahen.
Fräulein Mahldorf mußte mit ernstem Wort die beiden Kampfhähne trennen. Heiß und zerzaust kehrte Annemarie nach dieser Heldentat zu ihrer Mutter, die sich ihrer unmädchenhaften Tochter sehr schämte, zurück. Muttis vorwurfsvolle Augen und Tante Lenchens unzufriedene Miene sagten dem kleinen Mädchen mehr als Worte, daß es sich häßlich benommen.
Ja, viel hatte Doktors Nesthäkchen an dem ersten Tage im Kinderheim schon gelernt, aber – es blieb noch eine ganze Menge übrig.
12. Kapitel
Fräulein Liederjahn
Nun war Annemarie schon mehrere Wochen in Wittdün, und es schien ihr, als ob sie Zeit ihres Lebens in Villa Daheim gewesen. Sie hatte sich ganz in das Pensionsleben eingewöhnt, nur selten kamen noch Verstöße gegen die Hausordnung vor.
Allerdings mit der Ordnung an und für sich sah es bös bei Doktors Nesthäkchen aus. Jeden Sonnabend unterzog Tante Lenchen alle Kästen und Schränke der Zöglinge einer Musterung. Jedes Kind setzte seinen Stolz darein, Tante Lenchen zufrieden zu stellen. Sogar die Jungen, deren Ordnungsliebe nicht allzu groß war, und die während der Woche öfters mal in ihren Kästen das Unterste zu oberst kehrten, räumten zum Sonnabend ganz gewiß wieder schön auf. Selbst Klein-Annekathrein war schon für ihre Sachen verantwortlich.
Aber Doktors Nesthäkchen hatte sich nie um derartige Dinge gekümmert. Am liebsten ließ Fräulein sie zu Hause gar nicht an ihre Wäsche und Kleider herangehen, da sie das liederliche Fräuleinchen schon kannte. Hier in Wittdün hatte sie nun mit einemmal alles allein unter sich, da war es kein Wunder, daß Tante Lenchen, als sie das erstemal nachsehen kam, die Hände über den Kopf zusammenschlug. Sowas war ihr doch noch nicht vorgekommen, nicht einmal bei dem unartigen Peter.
Stiefel und Sandalen zwischen der reinen Wäsche, die hübschen Kleider hingen nicht mehr auf Bügel, sondern rollten sich in den Tiefen des Schrankes zum wüsten Knäuel. Die Mappe war statt mit Schulbüchern mit Muscheln vollgestopft, und die Bücher und Hefte selbst waren unterdes im Stiefelschrank einquartiert. Mitten auf einem kleinen Berg getragener Wäsche, die ihren Platz in einem Beutel haben sollte, aber thronte Puppe Gerda. Der nette Matrose Willem hatte seine Reisekameradin Gerda persönlich bei längerem Landaufenthalt im Wittdüner Kinderheim abgeliefert und seine kleine Freundin Annemarie gleichzeitig besucht. Nun konnte sie ihm die Pfeife, die sie mit Mutti für ihn gekauft hatte, selbst überreichen, und die Freude des braven Menschen mitansehen.
Weniger groß war Tante Lenchens Freude beim Anblick dieser wüsten Unordnung. Zum erstenmal war sie auf den allerliebsten Blondkopf richtig böse.
»Eigentlich müßte ich der Frau Kapitän zeigen, wie du deine Sachen verwahrst,« sagte sie streng.
»Nein, nein, die arme Frau Kapitän soll das nicht sehen, sonst wird ihr Haar noch weißer«, bitterlich begann Annemarie zu weinen.
»Während die anderen Kinder heute nachmittag zum Kaffeetrinken nach dem Dorfe Nebel gehen, hast du Zeit, deine Sachen in Ordnung zu bringen – ich sehe sie mir abends an.«
Annemaries Tränen flossen reichlicher.
»Könnte ich nicht lieber gleich nach Tisch, anstatt der langweiligen Liegekur, wo man doch bloß in der Sonne bratet, aufräumen, Tante Lenchen?« bettelte sie. Denn der Spaziergang nach dem Inseldorf Nebel war ein Ereignis für die Kinderpension, auf das sich alle schon tagelang vorher gefreut hatten. Auch Mutti wollte sich anschließen. Was würde die bloß sagen, daß ihre Lotte fehlte? And wenn sie nun erst noch den Grund erfuhr! Tante Lenchen wurde schwankend. Aber nein – sie mußte dem liederlichen kleinen Fräulein gegenüber fest bleiben. Bittere Medizin hilft am besten.
»Die Liegekur wird innegehalten, die ist dir ärztlich verordnet«, damit wandte sich Tante Lenchen zur Tür. Annemarie blieb in Tränen zerfließend zurück. Und die Tränen galten nicht allein dem Vergnügen, von dem sie ausgeschlossen werden sollte, nein, viel mehr der Unzufriedenheit von Tante Lenchen.
Da legte sich ihr ein zärtlicher Arm um den Hals und ein rotblondes Lockenköpfchen preßte sich gegen ihr nasses Gesicht.
»Weine nicht, Annemariechen, es sind noch zehn Minuten bis zum Mittagsläuten – wir fangen gleich an, Ordnung zu machen. Ich helfe dir«, so schnell sie konnte, hinkte Gerda zu Annemaries Schrank.
»Ach, das nützt ja nichts mehr, wir werden ja doch nicht fertig«, tieftraurig kam es von der Kleinen Lippen.
»Doch, ich s–tehe dir auch bei«, Ellen, die gerade an der schönsten Stelle in ihrem Buche angelangt war, ließ trotzdem dasselbe im Stich, um der armen Annemarie zu helfen. Sie übernahm die Wäschekästen, Gerda war bereits am Kleiderschrank beschäftigt, und als Annemarie das sah, sprang auch sie mit einem Satz an ihren Stiefelschrank. Die Wangen der drei glühten vor Eifer. Annemaries Tränen hörten auf zu fließen. Bald standen die Schuhe und Stiefel wie die Soldaten in Reih und Glied, die Kleider hingen säuberlich nebeneinander im Schrank, und die Wäsche ordnete Ellen mit der ihr eigenen Hamburger Gründlichkeit.
»Noch flink die S–tickereischürzen – Gittigitt – da schellt es schon«, die sonst so ruhige Eilen war in fabelhafter Aufregung.