»Dunnerkiel« – der Kapitän wollte losfahren, da sah er, was für ein allerliebster Blondkopf sein unerbetener Besuch war. Seine Miene wurde freundlicher.
»Du, Kleine, das Betreten dieses Decks ist nicht erlaubt«, er drohte ihr lächelnd.
»Och, das schadet nichts, wenn Sie mich nur nicht rausschmeißen, Herr Kapitän! Willem sagt doch, Sie sind der Höchste hier auf dem Schiff.« Treuherzig sahen ihn die strahlenden Blauaugen an.
»Ja, was willst du denn hier oben eigentlich, Kleine?«
»Bloß mal ein bißchen runtergucken, die Aussicht ist hier so schön«, teilte Annemarie ihm freimütig mit.
»Na, denn guck nur!« Der Kapitän lachte belustigt.
Aber der quecksilbrigen Annemarie wurde das Stillstehen da oben bald langweilig. Darum machte sie ihren Abschiedsknicks, sagte: »Ich danke auch vielmals. Herr Kapitän«, und unten war sie wieder.
»Je, gut, dat du Kummen tust, lütt Fräulein, ick will dich man schnell noch bei dein Mutting abliefern. Ick möt (muß) nu all an min Arbeit – gleich sünd wir in Cuxhaven«, damit brachte der Matrose seine kleine Gefährtin zu Frau Doktor Braun zurück.
»Sag mal, Lotte, warum starrst du denn bloß immerzu ins Wasser, sieh dir doch lieber die Stadt Cuxhaven an«, meinte die Mutter nach einem Weilchen. »Dort drüben, das ist der Leuchtturm, der den Schiffen den richtigen Weg in der Dunkelheit weist.«
»Ach, ich wollte bloß so schrecklich gern sehen, wo die Elbe eigentlich in die Nordsee fließt«, Annemarie starrte immer noch tiefsinnig in das schaumige Wasser. »Es ist bestimmt hier bei Cuxhaven, wir haben’s in der Schule gehabt. Aber man kann’s nicht recht erkennen. Ja, wenn ich Vaters Fernglas hätte!«
»Ich glaube, daß dir das auch nicht viel nützen würde, Lotte –«
»Vielleicht kann ich aushelfen«, ein alter weißbärtiger Herr gegenüber, der schmunzelnd Annemaries Auseinandersetzung mitangehört, reichte ihr sein Fernglas.
»Na, siehst du nun, bei welchem Wassertropfen die Elbe ins Meer fließt?« scherzte der Herr.
Annemarie schüttelte den Kopf. Nein, sehen konnte sie es nicht, aber sie sollte es bald spüren, daß sie jetzt nicht mehr auf der Elbe fuhr, sondern draußen auf offener See.
Die kleinen niedlichen Wellen, die bisher das Schiff begleitet, wurden größer und stärker, das Schaukeln auf dem Schiff nahm zu. Der Wind begann Annemaries Locken zu zausen, kaum konnte sie ihren neuen schwarzen Lackhut festhalten.
»Ih, dat is noch gar nix, lütt Fräulein«, sagte der Matrose Willem, der sich wieder getreulich eingefunden hatte. »Wat so’n richtiger dülliger (doller) Storm is, der dut anners um die Näs pfeifen. Ick will man nich wünschen, dat wir den hüt (heut) kriegen, sonst wirst du am End’ noch seekrank, lütt Fräulein.«
»Ih bewahre, ich kann doll schaukeln«, behauptete Annemarie.
Wunderbar war es hier draußen auf dem weiten, weiten Meer. Nichts als Wasser, wohin Annemarie auch blickte. Tiefblau war es, noch blauer wie der Sommerhimmel, der sich wie eine durchsichtige Glasglocke darüber stülpte. Aus den silbern flirrenden, unermeßlich weiten Wassern tauchte jetzt ein winziger roter Punkt auf – die Insel Helgoland. Alle Augen bewaffneten sich mit Ferngläsern, auch Annemarie durfte wieder durch das Glas des netten Herrn schauen. Immer größer, immer deutlicher wurde der rote Punkt, schon konnte man das Ober-und Unterland der Insel unterscheiden.
»Helgoland ist eine starke Seefestung mit Kanonen, falls es mal mit England Krieg geben sollte«, erzählte Frau Doktor Braun ihrem Nesthäkchen.
Inzwischen waren sie ziemlich dicht an Helgoland herangekommen. Deutlich sah man das merkwürdig rote Gestein, das diese Felseninsel auszeichnet.
»Grün ist das Land,
Rot ist die Kant’,
Weiß ist der Sand –
Das sind die Farben von Helgoland.«
Mit diesem Vers verabschiedete sich der alte Herr von der Kleinen, denn sein Reiseziel war erreicht.
Die »Königin Luise« hatte hier fast zwei Stunden Aufenthalt, der von den meisten Gästen zur Mittagspause benutzt wurde, weil das Schiff im Stehen weit weniger schaukelte.
Auch Frau Doktor Braun und ihr Töchterchen begaben sich in den schönen Speisesaal. Allerdings war Annemarie vorher in arger Verlegenheit. Sie wußte nicht, was sie mit Gerda beginnen sollte. In den Speisesaal mochte sie die Puppe nicht mitnehmen, sie konnte sie doch nicht die ganze Zeit während des Essens auf dem Schoß behalten. Da erbarmte sich ihr Freund Willem der Puppe. Er steckte sie in die Tasche seines Tranmantels und meinte schmunzelnd: »Ick will schon up sei passen, wenn sei man bloß nich seekrank wird!«
»Wie ist denn das, wenn man seekrank wird?« erkundigte sich die Kleine.
»Da geiht allens mit einem im Kreis rümmer«, war Willems Antwort.
»Nun habe ich meine Gerda auch in Pension gegeben, wie du mich, Mutti«, beruhigt folgte Nesthäkchen jetzt der Mutter die Treppe hinab. Aber wenn es Annemarie in ihrer neuen Pension nicht besser gefiel als ihrer Puppe in der nach Pfeifentabak und Öl riechenden Tranmanteltasche des Matrosen, dann wäre es schlimm gewesen. Während Annemarie es sich nach Herzenslust schmecken ließ, schimpfte Puppe Gerda wie ein Rohrspecht aus Willems Tasche heraus. Aber der Matrose verstand zum Glück die Puppensprache nicht.
Ein wenig beklommen hatte Doktors Nesthäkchen trotz all ihrer freimütigen Unbefangenheit doch an der schönen Tafel unter den vielen fremden Menschen Platz genommen. Nur bei Kindergesellschaften hatte sie bisher an solcher festlichen Tafel gesessen. Und das war hier doch noch ganz was anderes. Schon, daß die Schüsseln herumgereicht wurden und sie sich selbst etwas nehmen durfte, war aufregend. Denn zu Hause legte Mutti ihren Kindern vor. Fragend blickte Annemarie zur Mutter hin, als der Kellner im Matrosenanzug, auf dem Schiff »Steward« genannt, ihr die Schüssel präsentierte.
»Nimm dir nur, Lotte«, nickte Mutti lächelnd.
Nachdem Annemarie das Kunststück herzklopfend fertig gebracht, und das Stück Heilbud glücklich auf ihrem Teller lag, schielte sie wieder fragend zu Mutti hin: Hatte sie sich auch nicht zuviel genommen?
Die Tischnachbarn beobachteten diesen bei jedem Gang sich wiederholenden Vorgang belustigt. Einige begannen euch eine Unterhaltung mit dem reizenden blonden Mädelchen. Da fand Annemarie ihre Unbefangenheit wieder und gab frisch und frei Antwort.
Natürlich mußte das neugierige Fräulein auch sehen, was neben und hinter ihm vorging. Ihr Kopf drehte sich bald rechts, bald links.
Himmel, was war denn das? Der Sessel, auf dem sie saß, begann sich ja mit zu drehen – bald links, bald rechts, gerade wie das kleine Mädelchen. Annemarie machte ein entsetztes Gesicht, denn sie wußte nicht, daß sie aus einem Drehsessel saß.
»Mutti,« flüsterte sie aufgeregt, »du, Mutti, ich glaube, ich habe die Seekrankheit, es geht alles mit mir herum.«
Die Tischgenossen, welche die ängstlichen Worte gehört, brachen in ein lautes Gelächter aus. Auch Mutti sagte unter herzlichem Lachen: »Du hast nicht die Seekrankheit, sondern eher die Drehkrankheit, Lotte.«
Das Essen war zu Ende. Die meisten begaben sich wieder auf das Deck. Die »Königin Luise« setzte ihre Fahrt fort.
Inzwischen hatte der Wind die Zeit benutzt, um alle Wolken und Wölkchen, deren er nur habhaft werden konnte, an ihren weißen Flauschohren herbeizuziehen. Die Sonne war verschwunden. Schweres Gewölk hing jetzt drohend über dem schwarzgrau gewordenen Meer.
Prüfend und ein wenig sorgenvoll schauten die Reisenden in die so rasch veränderte Wasserlandschaft. Es würde doch keinen Sturm geben?
Die Blaujacken, die als Eingeweihte befragt wurden, beruhigten die Herrschaften.
Ih,