In strahlender Erwartung hielt das Enkelchen ihr sein mühsames Werk hin. Großmama war zufrieden.
»Für den Anfang ganz nett, Herzchen. Zweimal hast du allerdings nur eine halbe Masche aufgenommen. So, nun stricke die zweite Nadel.«
»Was, noch eine?« Annemaries rundes Kindergesichtchen wurde lang. Sie hatte geglaubt, als Belohnung brauche sie nun überhaupt nicht mehr zu stricken.
»Ei, bist du der Sache schon überdrüssig?« fragte Großmama, und ihr liebes Gesicht drückte leise Mißbilligung aus. »Es fällt kein Meister vom Himmel, Kind! Jedes Ding will gelernt und geübt sein. Schade, ich wollte dir jetzt gerade als Belohnung eine schöne Geschichte erzählen. Aber wenn du nicht mehr stricken magst – –«
»Doch, Großmuttchen, ich will; wenn du mir was erzählst, stricke ich bis heute abend, dann ist es kein bißchen langweilig!« Nesthäkchen sprang vor Freude von dem Stühlchen auf. Da sprangen auch gleich ein paar Maschen vor Freude von der Nadel. Aber Großmama wurde nicht ungeduldig, den Schaden immer wieder zu heilen. Bald klapperten aufs neue eifrig die Stricknadeln von Großmama und Enkelchen. Und Großmama erzählte …
Als die Geschichte vom goldenen Rehbock zu Ende war, hatte das kleine Mädchen bereits vier Nadeln abgestrickt und keinen einzigen Prudel darin.
»Noch eine, bitte, Großmuttchen«, bat die Kleine, einen tiefen Atemzug ausstoßend, als Großmama mit »und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie heute noch«, schloß.
Die gute Großmama dachte ein Weilchen nach, dann begann sie von neuem. Diesmal war es das schöne Märchen vom Regenbogenprinzeßchen. Klein-Annemarie wußte kaum noch, daß sie strickte. Sonst hatte sie stets bei jeder Masche ein Gesicht geschnitten, heute aber war sie mit Lust und Liebe dabei. Darum glückte es auch.
Als die zweite Geschichte zu Ende ging, war Klein-Annemaries Seiflappen um ein ganzes Stück gewachsen. Da aber machte Großmama eine Pause. Denn man soll nichts übertreiben. Auch den Arbeitseifer nicht.
Großmama und Nesthäkchen gingen zusammen spazieren und erholten sich dabei von ihren Anstrengungen. Aber am Nachmittag, nachdem die Schokoladenspeise herrlich gemundet, saß Annemarie wieder bei ihrer Arbeit. Vorher aber hatte sie sich von selbst die Händchen gewaschen. Eifrig klapperten Nesthäkchens Stricknadeln, galt es doch, die liebe Großmama, die ihr Mittagsschläfchen hielt, durch den heimlichen Fleiß zu überraschen. Es war, als wüßten die Stricknadeln, was Annemarie für eine gute Absicht hatte, denn sie halfen ihr nach Kräften dabei. Keine war widerspenstig, keine ließ eine Masche herunterrutschen, glatt und sauber sah das Strickzeug aus. Die Überraschung glückte über Erwarten gut.
Als Fräulein abends ihre kleine Annemarie abholte, wollte sie es gar nicht glauben, daß Nesthäkchen, welches in der Schule so prudelte und zu Hause nur mit Tränen zum Stricken zu bringen war, das alles allein gemacht habe.
»Weißt du, Fräulein, daran sind nur Großmamas schöne Geschichten schuld«, meinte die Kleine, erfreut über das Lob.
»Nein, Herzchen, nicht Großmamas Märchen, sondern Annemies Lust und Liebe zur Arbeit hat das Wunder zuwege gebracht. Und außerdem, es ist ja ein Wunderknäuel! Stricke nur zu Hause fleißig weiter, wenn das Knäuel aufgearbeitet ist, gibt es am Ende noch eine Überraschung«, sagte Großmama geheimnisvoll beim Abschied.
Jetzt war Klein-Annemaries Neugier geweckt. Und da ihr das Stricken nun, wo die erste Schwierigkeit überwunden war, auch anfing, Freude zu machen, saß sie täglich bei ihrem Wunderknäuel. Puppe Gerda war ordentlich eifersüchtig auf das alte, weiße Ding, für das ihre kleine Mama jetzt mehr Interesse hatte als für sie und ihre Schwestern.
Wie aber erstaunte die Puppe, als das Wunderknäuel zu Ende gearbeitet war und ein kleiner, goldener Ring mit blauem Stein als Belohnung zum Vorschein kam.
Der schmückte von nun an die fleißigen Fingerchen von Nesthäkchen.
15. Kapitel
Die erste Zensur
Die wenigen Wochen bis zu den Oktoberferien vergingen im Umsehen. Bei Doktor Brauns im Hause herrschte große Aufregung. Wie würden die Zensuren am nächsten Tage ausfallen?
Hans war ein guter und gesitteter Schüler. Der brauchte keine Angst vor seinem Zeugnis zu haben. Aber da er ein bescheidener Junge war und seine Leistungen nicht zu hoch anschlug, klopfte ihm doch das Herz, wenn er an morgen dachte.
Der Frechdachs Klaus dagegen war, trotzdem er nicht besonders bei seinen Lehrern angeschrieben stand, durchaus davon überzeugt, daß er eine glänzende Zensur bekommen müsse. Der fürchtete den Zensurentag ganz und gar nicht.
Und unser Nesthäkchen? Ei, das hatte große Sorgen. Würde sie die Erste bleiben? Oder kam eine andere auf den Ehrenplatz?
»Was meinst du, Gerdachen?« fragte Annemarie ihre Puppe, für die sie heute, da keine Schularbeiten zu machen waren, wieder mehr Zeit hatte. »Glaubst du, daß ich oder Mariannchen Erste komme?«
Puppe Gerda zuckte die Achsel. Ihr erschien es recht zweifelhaft, daß Annemarie ihren ersten Platz behalten würde. Denn die Hefte und Schulbücher, die sie öfters zu sehen bekam, schauten nicht gerade sauber aus.
Und Puppe Gerda sollte recht behalten.
Zwar hatte Nesthäkchen auf Vaters Frage: »Na, was wird uns denn unsere kleine Lotte heute das erstemal für eine Zensur nach Hause bringen?« freudig versichert: »Eine feine, ich bleibe bestimmt die Erste!« Aber Mutti hatte warnend den Finger erhoben: »Du, Lotte, sei nicht zu siegesgewiß, eine Erste muß in allem vorbildlich sein. Denke an die Tintenflecke und Eselsohren in deinen Heften.«
»Aber nicht wahr, Mutti, wenn ich Erste bleibe, darf ich in den Ferien alle meine Freundinnen einladen, du hast es mir doch versprochen, daß dann zur Belohnung bei uns Kindergesellschaft ist?« Erwartungsvoll schaute Nesthäkchen die Mutter an.
»Wenn ich aus deiner Zensur ersehe, daß du dir Mühe gegeben hast, deine Fehler, Unachtsamkeit und Unsauberkeit, abzulegen, Lotte. Nur für den Fall habe ich es dir versprochen. Der erste Platz hat damit nichts zu tun.«
Als Annemarie und ihre Freundin Margot am nächsten Morgen in ihren Sonntagskleidchen zur Schule gingen, um die Zensuren in Empfang zu nehmen, sprach Nesthäkchen von nichts anderem, als von der in Aussicht stehenden Kindergesellschaft.
»Dich lade ich zu allererst ein, Margotchen, weil du doch meine beste Freundin bist. Und dann noch Ilse und Marlenchen, und Ruth und Mariannchen. Aber Hilde Rabe muß auch kommen, weil die immer so fein ungezogen ist. Am besten ist’s, ich lade gleich die ganze Klasse ein, denn eigentlich sind es doch alle meine Freundinnen.«
»Mich darf Hilde Rabe nicht besuchen, meine Mutti sagt, ich darf nur mit artigen Kindern verkehren«, vertraute Margot ihrer Freundin an.
Annemarie machte ein erschrecktes Gesicht. Ach Gott, am Ende verbot Frau Thielen ihrer Margot auch eines Tages die Freundschaft mit ihr! Durch das offene Fenster mußte doch ihr Geschrei, wenn sie sich mit Klaus zankte, bis zu Thielens hinüberschallen. Nein, da war es doch gescheiter, sie sah sich vor und vertrug sich besser mit dem Bruder. Sie hatte ja ihre Freundin Margot so lieb, die sollte sie nicht auch für ein unartiges Kind halten.
»Meine Mutti hat mir eine Zensurenmappe versprochen, wenn ich ein gutes Zeugnis bekomme«, erzählte Margot weiter.
»Ich kriege auch eine, eine rote mit Silberschrift! Meine Großmama schenkt sie mir, wenn ich wieder Erste werde. Da muß ich doch Erste bleiben, nicht, Margotchen? Und dann noch wegen meiner Kindergesellschaft.«
Margot sah die Notwendigkeit ein.