»Wir wollen erst unsere Himbeeren ins Haus tragen. Nanu, Annemie, sind das alle, die du gepflückt hast? Da scheinen ja die meisten in deinen Magen gewandert zu sein.« Fräulein sah verwundert den fast leeren Topf von Nesthäkchen.
»Ich habe meine Himbeeren der Mizi geschenkt, weil die sie doch verkauft und für das Geld Milch kaufen muß«, berichtete Annemarie.
»Das ist recht, Kind«, lobte Fräulein. »Nun wollen wir auch der Mizi ihre Beeren abkaufen, und dann mag sie uns meinetwegen ihre Kätzchen zeigen.« Erfreut folgte das kleine Beerenmädel der Voranschreitenden ins Haus. Das zweite kleine Bauernmädel aber blieb mit einem eigentümlichen Gefühl zurück.
Fräulein hatte sie für etwas gelobt, das sie doch eigentlich viel mehr um ihrer selbst willen getan hatte, als um Mizi eine Freude zu machen. Hauptsächlich hatte sie der Mizi doch ihre Himbeeren geschenkt, um möglichst schnell die kleinen Katzen zu sehen.
So nah, wie Annemarie sich das vorgestellt hatte, war das Hüttlein von der Himbeermizi nun nicht. Es war doch gut, daß sie nicht allein dorthin mitgelaufen war, daß Fräulein sie gerade noch im letzten Augenblick gerufen hatte. Erst mußten sie wieder tüchtig im Walde hinaufklettern, dann ging es hinaus auf die leuchtendgrünen Matten, die wie weiche Samtteppiche über die Berge gebreitet waren. Verstreut lagen darin die Häuslein und Hütten.
»Ach, hier wohnst du? – ist das aber ein olles Haus!« Klein-Annemarie sah geringschätzig auf das elende Hüttlein mit dem Strohdach.
Mizi stieg das Blut bis an die glattgebürsteten, semmelblonden Haare. Fräulein aber sagte verweisend: »Pfui, Annemie! Weißt du noch nicht, daß in dem schönsten Palast schlechte Menschen wohnen können und in dem armseligsten Hüttlein brave Leute? Ich hätte meine Annemie für weniger stolz gehalten!« Da schämte sich Annemarie ihres häßlichen Ausspruchs noch mehr als die Mizi ihres baufälligen Hüttleins.
Als Mizi ihre Gäste nun zaghaft in das kleine Stübchen führte, das so sauber und nett aussah mit den buntblühenden Blumenstöcken am Fenster, da gefiel es jedoch auch Annemarie hier. Während sie die Holzwiege mit dem sanft schlummernden Brüderle bewunderte – denn eine Wiege hatte das Stadtkind noch nie gesehen –, fragte Fräulein die Mizi nach ihren Eltern.
»Der Vatel und die Muttel arbeiten in der großen Papierfabrik im Nachbardorf. Da gehen sie schon in aller Früh’ hin und kommen erst des Abends heim.«
»Ja, aber wer sorgt denn da für euch Kinder?« forschte Fräulein.
»Nu, halt ich, ich richte die Betten und kehre die Stube und versorge das Brüderle«, klang es ganz selbstverständlich aus dem Munde des achtjährigen Kindes.
Jetzt wurde Annemarie so rot wie vorhin die Mizi. Auch ohne Fräuleins sprechenden Blick empfand sie es, wieviel mehr das arme Kind, das in einem Hüttlein lebte, leistete als sie selbst, die in einem schönen Hause wohnte.
»Gehst du denn gar nicht in die Schule?« erkundigte sich Annemarie schüchterner, als das sonst ihre Art war.
»Freilich, dann paßt die Nachbarin auf den Bub auf, und auch, wenn ich Beeren suche. Aber jetzt haben wir zwei Monate lang Kartoffelferien.«
»Was für Ferien?« lachte Annemarie, und ihre Befangenheit verflog.
»So nennt man die Sommerferien hier auf dem Lande, weil die Eltern ihre Kinder für die Erntearbeit brauchen«, erklärte ihr Fräulein. »Aber an der fleißigen Mizi kann sich jedes Kind ein Beispiel nehmen, was?«
Zum Glück überhob Mizi die Kleine einer Antwort. Sie brachte in ihrem geflickten Schürzchen fünf junge Kätzchen aus dem Kaninchenstall herzugetragen. Zwei schneeweiße, eine graue, eine weiß-schwarz gefleckte und einen kleinen, schwarzen Kater. Die alte Katze aber kam argwöhnisch hinterhergelaufen, um zu sehen, ob ihren Kleinen auch kein Leids geschah.
Wirklich, Mizi hatte nicht zuviel versprochen. Süß waren die kleinen, spielerischen Dinger! Wie drollig sie durcheinandertollten, nach ihrem eigenen Schwänzchen haschten und sich gegenseitig ohrfeigten!
Nesthäkchen jubelte so laut, daß das Brüderle aufwachte und ein jämmerliches Geheul hören ließ. Da ging Mizi in die kleine Küche zum Herd, auf den sie kaum hinaufsehen konnte, langte Milch herunter, füllte ein Fläschchen und flößte sie dem Kinde geschickt ein.
Annemarie teilte ihre Bewunderung währenddessen getreulich zwischen den putzigen Kätzchen und der tüchtigen Mizi. Machte sie selbst nicht oft ein verdrossenes Gesicht, wenn sie nur abends ihre Spielsachen aufräumen sollte? Nein, das wollte sie aber von nun an nicht mehr tun, sie wollte immer an die fleißige Himbeermizi denken. Da unterbrach diese Nesthäkchens gute Vornahmen.
»Welches Katzerl magst? Ein weißes oder halt das schwarze Katerle?«
Ach, wer die Wahl hat, hat die Qual! Die Wahrheit dieses Sprichwortes empfand Klein-Annemarie zum erstenmal in ihrem siebenjährigen Leben. Am süßesten erschienen ihr eigentlich die schneeweißen Kätzchen, pflaumenweich waren die. Als Annemarie zaghaft eins auf den Arm nahm, ließ es ein ängstliches »Mi« ertönen. Das hörte sich gerade so an, als ob ein kleines Kind weinte. Die graue hatte so schöne, grüne Augen, wie aus Glas sahen die aus, und die gefleckte war die munterste von allen. Die spielte am niedlichsten und ohrfeigte die anderen am drolligsten. Aber den süßen, kleinen, schwarzen Kater hätte sie auch zu gern gehabt, der sah so entzückend frech aus.
»Ich möchte am liebsten alle fünf!« entschied Klein-Annemarie schließlich mit einem tiefen Seufzer.
»Alle geb’ ich sie aber nicht her, meine Tierle.« Schützend breitete Mizi ihre kleinen Ärmchen über die Katzenfamilie.
Fräulein lachte: »Ei, Annemie, denke einmal, was Mutti wohl für ein Gesicht machen möchte, wenn du ihr die Einquartierung bringst. Und Frau Meergans würde uns am Ende die Wohnung kündigen. Ich denke, du wählst eins von den weißen Kätzchen. Davon hat die Mizi zwei und wird es daher leichter entbehren.«
Annemarie war einverstanden. Denn das kleine Kätzchen, das sich immer noch so warm in ihren Arm einkuschelte, hatte bereits ihr ganzes zärtliches Herzchen gewonnen.
»Vielleicht borgt uns die Mizi ein Körbchen, daß wir das Kätzchen besser heimtransportieren können«, schlug Fräulein noch vor.
»Freilich, ich hol’ meine Schultasch’.« Bereitwilligst sprang Mizi in den Nebenraum.
Nesthäkchen machte ein verdutztes Gesicht. Was – in die Schulmappe wollte Mizi die Katze packen? Das war ja ulkig.
Da kam die Kleine auch schon zurück. In der Hand trug sie eine alte, ausgefranste Hanftasche, die arg mitgenommen aussah. Daraus nahm sie eine Schiefertafel, eine Fibel, ein Rechenbuch und einen Katechismus.
»Nanu – ist die olle Kartoffeltasche etwa deine Schulmappe? Erlaubt denn das deine Lehrerin, daß du mit solch einem schmutzigen Ding in die Schule kommst?« Annemarie blieb das rote Mündchen fast offen vor Staunen.
»Zu einem Schulranzen hat’s halt noch immer nicht langen wollen«, entschuldigte sich Mizi errötend.
Wieder drängte sich Annemarie der Vergleich ihres eigenen Lebens mit dem des armen Kindes auf. War sie dankbar für ihre schöne Schulmappe? Hatte sie dieselbe nicht als etwas ganz Selbstverständliches hingenommen? Ja, wie oft mußte Fräulein sie tadeln, weil sie unachtsam mit ihr umging.
»Na, vielleicht bringt dir der Herr Rübezahl mal eine Schulmappe, Mizi, weil du so brav bist. Jetzt müssen wir aber schleunigst nach Haus, Annemie«, sagte Fräulein. »Leb’ wohl, Mizi, und wenn du wieder Himbeeren hast, da bring’ sie uns nur. Bei uns gibt’s immer freudige Abnehmer dafür!«
»Küss’ die Hand.« Mizi machte einen höflichen Knicks und reichte Annemarie ihre mißachtete Schultasche mit dem mauzenden Kätzchen. Dann hielt sie die alte Katze fest, die vor Wut fauchte, weil man ihr ein Junges nahm.
»Vielen,